Triakontameron

Damit wir nun nicht aus Trägheit oder Sorglosigkeit einem Unglück erliegen, dem wir, wenn wir wollten, auf irgendeine Weise entgehen könnten, dächte ich, wiewohl ich nicht weiß, ob ihr die gleiche Meinung habt, es wäre am besten, wir verließen, so wie wir sind, diese Stadt, wie es viele vor uns getan haben und noch tun.

(Giovanni Boccaccio: Decamerone, Einleitung zum 1. Tag)

31. Tag

mit: Georg Döcker, Mareike Maage, Theresa Patzschke / Mark von Schlegell, Monika Raič, Lars Schneider, Anne Siegetsleitner, Lisa Starogardzki, Alex Tschida, Franziska Teubert

Tag 30
Gomes/Thermann: Incubus. Der pandemische Text

1962 schrieb William Burroughs von Sprache als einem Virus. „Language is a virus.“ Das klang damals und klingt auch heute noch griffig und es lässt sich, wie Laurie Anderson gezeigt hat, hervorragend Pop-Musik daraus machen. In Wirklichkeit aber stimmt das mit dem Virussatz nicht ganz. In Wirklichkeit müsste man die Terme umkehren: „A virus is language.“

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Tag 29
Dunja Bialas: Die größte Weisheit der Menschen


Wie kann, wie wird die Geschichte von Corona enden? Ein Ausblick auf die Zukunft
Nicht das Ende steht am Ende dieser dreißig Tage. Sondern ein dem Englischen entnommener Terminus: Exit.

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Tag 28
Michael Cuntz: Pascals Katzen: als ob, Unentscheidbarkeit und Entscheidungen in der Epoche des Coronavirus

In einer seiner berühmtesten Pensées, jener der Wette, legt Pascal oder wer immer da spricht, seinem Adressaten, dem notorischen Ungläubigen oder libertin, nahe, seine Skepsis und Zweifel gegenüber der Existenz der göttlichen Gnade doch einfach hinter sich zu lassen und sich an jenen zu orientieren, die ihm auf dem Weg zum Glauben vorangegangen sind: „c’est en faisant comme si“, also indem diese so tun, als ob sie glaubten und ihre Handlungen danach ausrichten.

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Tag 27
Dominic Angeloch: Allgemeine Isolation und die Wiederkehr des Allgemeinen

Filme für den inneren Ausnahmezustand – Literatur wider die vollendete Trennung
Eine Freundin schickte mir eine Liste mit Filmen zur Pandemie und verwandten Thematiken, Seuchen- und Katastrophenfilme bis hin zu Postapokalypse-Szenarien, die man während Quarantäne und Ausgangssperre bingen könne

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Tag 26
Katja Schubert: Kleines Billet aus Frankreich: Confinement

Seit vier Wochen leben wir hier in Frankreich im sogenannten « Confinement ».
Schaut man im französischen Wörterbuch nach, findet man zunächst Definitionen wie « Isolierung eines Gefangenen », « Eingeschlossensein in einem begrenzten Raum oder der Akt, jemanden darin einzuschließen », « das Verbot für einen Patienten, das Krankenzimmer zu verlassen ».

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Tag 25
Benjamin Loy: Corona-Times: pandemische Zeit(ge)schichten

Während in Quarantäne, Abstandsregeln und Reiseverboten gegenwärtig vor allem die Veränderungen der räumlichen Dimensionen des pandemischen Lebens im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, bleiben die zeitlichen Situierungen demgegenüber bislang merkwürdig unterbeleuchtet.

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Tag 24
Christoph Eggersglüß: Verfahrensfreie Schutzhütten

Deutschland im Lockdown. In Sachsen herrschen neben Bayern, zumindest auf dem Papier, die härtesten Bewegungsbeschränkungen für all jene, die nicht relevant sind, zumindest nicht fürs System. Für die einen bedeutet das viel, für die anderen kaum Veränderung des Tagesablaufs.

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Tag 23
Max Walther: S-P-E-L-L: A-R-K

Eingebettet in ein zugegeben ordinär wirkendes Lamento über die eigene Mittelmäßigkeit und die Bedeutungslosigkeit von poetry in spätkapitalistischen Zeiten – deren Wirkungslosigkeit und Ohnmacht – entwerfen Juliana Spahr und David Buuck in ihrem kollaborativen An Army of Lovers einen Zeichenkreis um ein notwendigerweise flüchtiges Zentrum: a casting s-p-e-l-l.

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Tag 22
Josephine Bätz: [situs inversus] 

nach dem körper begeben sich
auch die sinne in isolation ziehen nach innen
tasten organe ab drehen sie zurecht drehen sie
tief

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Tag 21
Bernhard Teuber: Kreatürlichkeit

„Die sahen nicht alles voraus …, sondern die erinnerten sich dauernd an alles mögliche und fanden, es sei besser gewesen. Am häufigsten erinnerten sie sich an das, was es nie gegeben hatte.“ An diesem Satz der „schiefen Tante“ aus Dietmar Daths Erzählung zum 1. Tag bin ich hängen geblieben. Egal, wer die überhaupt sind und in welcher Beziehung sie zur Tante oder auch zum „Linken“ auf dem Balkon stehen: es muss Leute geben, die sich an alles Mögliche zurückerinnern.

Tag 20
Gerko Egert: Das choreographische Regime Covid-19 

Ich habe in den letzten Tagen und Wochen viel gelernt: Über Zahlen und deren Verlaufskurven, über Infizierungsraten und den Unterschied von FFP 1, FFP 2 und FFP 3 Atemschutzmasken. Ich habe gelernt, dass mein Wohnzimmer ein Büro, eine Kneipe, ein Club und ein Theater sein kann, …

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Tag 19
Gernot Kamecke:Globaler Ausnahmezustand? Über eine lateinamerikanische Variante subjektiver Gesundheitsfürsorge

Kommt man dieser Tage noch in den zweifelhaften Genuss, am interkontinentalen Flugverkehr teilzunehmen, so ergibt sich vielleicht, sofern man gesund am gewünschten Ziel angekommen ist, die Gelegenheit einer Probe aufs Exempel: Haben die Menschen überall auf ähnliche Weise ihr Leben verändert und ihre Bewegungen eingeschränkt?

Tag 18
Bernd Stiegler: Schließlich und endlich eine Reise durch mein Zimmer oder Zimmerreise (revisited)

Wenn man vor zehn Jahren ein Buch geschrieben hat, das noch dazu einem recht abgelegenen Gegenstand gewidmet ist, denkt man im Traum nicht daran, daß es noch einmal eine fröhliche Urständ erfahren könnte. Mit meinem Buch über die Geschichte der Zimmerreise geht es mir – aus naheliegenden Gründen – gerade so.

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Tag 17
Annette Krauß: Chronik einer Ankündigung

Es hätte Anzeichen gegeben. Ende Dezember, als in Europa noch niemand über die chinesische Millionenstadt Wuhan und die dort auftauchende Erkrankung sprach, entwickelte sich in einem ehemaligen bayerischen Künstlerdorf eine Auseinandersetzung um ein anstehendes Masken-Fest.

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Tag 16
Jürgen Martschukat: Körperpolitik in den Zeiten von Corona

Hometrainer haben gerade reißenden Absatz. Zwar sagt die Bundesregierung im Moment noch, dass „individueller Sport und Bewegung an der frischen Luft […] selbstverständlich weiter möglich“ sind, aber wer weiß schon, was in vierzehn Tagen ist? Außerdem ist Outdoor-Sport ja nicht jedermanns und jederfrau Sache.

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Tag 15
Julia Stenzel und Jan Mohr: Was das Spiel heilt

In fünf Wochen hätten sie einen von ihnen kreuzigen wollen. Den einen oder den anderen Jesus; und dann immer wieder, abwechselnd, den ganzen Sommer lang. 110mal Tod, Grablegung und die Hoffnung auf Auferstehung. 110mal die Erfüllung eines Gelübdes aus dem Jahre 1633. Wer zuerst hätte sterben dürfen, hätte das Los entschieden. Seit 1634 wird in Oberammergau alle zehn Jahre das Passionsspiel aufgeführt…

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Tag 14
Rike Bolte: Die karibische Makro-Inkubation oder In der Schublade der Selbstinfektion

Vom Verdacht gegen jede Oberfläche
In Roberto Bolaños posthum veröffentlichtem Gedichtband La Universidad Desconocida vagieren Figuren durch den heterotopischen Raum einer kritischen Institution.

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Tag 13
Erik Porath: Stille Feiung – die Wunschvorstellung der Stunde

Immunität ist das, wonach sich die Leute heute, in pandemischen Zeiten noch ohne verlässliche medizinische Hilfsmittel, besonders sehnen – und „stille Feiung“, so der „schöne alte medizinische Begriff“, erscheint als der ultimative Traumpfad dorthin:

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Tag 12
Volker Häring: Warteschlangenblues

„Hallo Papa“ – „Hallo Sarah“ – „Hallo Volker“ – „Hallo Herr Häring“
Das war Sarahs Lehrer. Sarah hat virtuelle Hofpause, per Videokonferenz. Und jetzt starren mich alle an. Nicht besonders verwunderlich, weil ich gerade aus der Badewanne komme und mein Bademantel offen steht.

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Tag 11
Lionel Ruffel: Forever Dekameron

Es existierte damals – nicht am anderen Ende der Welt, sondern in ihrem Zentrum – nein, keine Insel, sondern eine Stadt, die hieß Florenz. Und wenn überhaupt noch etwas von unserer Welt existiert, so wird sie immer noch so heißen. Sie ist zu dieser Zeit die außerordentlichste Stadt.

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Tag 10
Daniel Graziadei:Vom sonderbaren Leben am Ende einer Lektüre

Ich wache scheinbar sehr spät und, ehrlich gesagt, dennoch ungewollt auf. Das ist wohl ein Lautsprecherwagen, der da am Häuserblock entlangfährt und irgendetwas schallt von die Lage sei ernst und niemand solle rausgehen, es drohen Strafen. Zugegebenermaßen verdutzt starre ich auf den lauten roten Fleck, der aus einem Kindertraum ausgebüxt zu sein scheint und nun in Zeitlupe durch meinen Alptraum rollt. Erneut befiehlt mir die strenge Stimme ich solle zu Hause bleiben.

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Tag 9 
Gorch Maltzen: Wie meine Familie mit Katastrophen umgeht 

Ein philosophisches Lexikon aufgeschlagen, auf der Suche nach einer Geisteshaltung, die meine Familie treffend beschreibt, ist es Fatalismus, zehn von zehn Mal, kein Zweifel. Vielleicht ist es das Naturell einer ehemaligen Bauernfamilie, die Erzählungen der Altvorderen über Werden und Vergehen, Saat und Ernte verinnerlicht hat.

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Tag 8
Judith Kasper: Coronae.
Von der Kraft der Poesie und dem Traum einer anderen Philologie
(Ein Anfang)

Vor kurzem erwachte ich, noch benommen von den bedrückenden Träumen dessen, was tagsüber trotz ständiger Beschäftigung damit nicht verarbeitet wird. Corona. Und dann: Corona… und dann: Celan: Corona. Corona.

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Tag 7
Nora Zapf: Bleibekartoffeln? Gedämpftes Verwandelen (unter diesem Loop aus Zeit)

Wir sind home potatoes!, lachte Friederike Mayröcker ca. vorvorgestern in die wacklige Handykamera einer Kollegin in ihrer Wiener Bleibe. Das großartig dunkle, offene und mitreißende Lachen der Dichterin ist nicht verlinkbar, weil nur in Facebook-Kreisen geteilt. Vielleicht erblickt es noch das Licht der übrigen 6/8 der Welt. Kartoffel Kartuffel. Sagen wir Erdapfel, Grundbirne, solanum tuberosum (= Bodenbuckel), sagen iouza, papa, Potacke oder Püree?

Tag 6
Robert Stockhammer: Zwei Aprilanfänge in Ul’fögt-Gâkl

Am 1. April des Jahres 9749 vor Christus war es bemerkenswert warm. Pierre, der sich gerade einen Paradeiser gepflückt hatte, setzte sich auf die Hollywood-Schaukel, zog seine Jack-Wolfskin-Jacke aus und jubilierte:

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Tag 5
Kurt Hahn: Von Systemen und Funktionen

Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.
(Paul Celan: Titel cf. überall…)

Systemrelevant sind wir nicht,
aber relevant ist das System,
man stirbt an der Adria,
an der Adria, in Bergamo und in Mailand,
und auch in Madrid.

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Tag 4
Eva Horn: Corona als politische Phantasie

Reale Katastrophen sind unübersichtlich. Was wirklich passiert ist, was schief ging und was gut, sieht man meist erst im Rückblick. Es gehört zu ihrer Zeitstruktur, dass man kaum in der Lage ist, die nächste Wendung vorauszusehen.

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Tag 3
Thomas Sojer: Zeitausgleich

„Wenn beim Schiffbruch mit Zuschauer den Gaffern das Wasser bis zum Hals steht, dann haben sie das Gewicht des Mondes falsch bemessen“, sagte der Bauer, der nach dem Stall gern Blumenberg las, zu seiner Ziege, die nach dem Stall gerne Blumenberg vorgelesen bekam.

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Tag 2 
Jörg Dünne: Corona-Proxemik

How many kinds of distance do people maintain?
(Edward T. Hall)

In der kulturtheoretischen Debatte um den globalen Ausnahmezustand, wie sie Giorgio Agamben ausgelöst hat , geht es wie selbstverständlich um das globale Ganze der „Corona-Krise“. Man könnte allerdings auch erst einmal mit dem – scheinbar – kleinen Nahen beginnen, wohl wissend, dass es letztlich untrennbar ist von einer globalen Situation:

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Tag 1
Dietmar Dath: Hustekuchen & Pustensaft

Eine schiefe Tante wurde plötzlich gesund. Es gab keinen Grund. Dann wurde sie wieder krank. Na, vielen Dank! Dann wurde sie wieder gesund.
So ging das weiter, und sie lachte meistens dazu.
Die schiefe Tante fuhr oft mit dem Rad auf Schlangenlinien durch ihre Erleuchtungen, das hatte sie sich bei den besseren Ideen abgeguckt.

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