31.Tag

Alex Tschida
Der Tanz der Viren
Lars Schneider
Start
Lisa Starogardzki
Erinnern
Theresa Patzschke / Mark von Schlegell
Mercury Station
Franziska Teubert
Blaue Nachzügler
Karolin Meunier
Ceasing the Voice-Over

…was wir taten, da wir immer noch zu Hause waren? Weitererzählen. Entgegen der Zehn. Entgegen der Dreißig. Fortsetzung:

Alex Tschida: Der Tanz der Viren

I.
Covid, Covid!
Komm mit, komm mit!
Es hallt der Todesvogelruf
In menschenleeren Gassen.
Dann kehrt auf den verlassenen Straßen
Nach seinem dunklen Schreien
Am Tage Friedhofsruhe ein.


II.
Covid, covid!
Er will zum Tanz der Viren
Die Wirte dreist verführen.
Ein Wesen in den Lüften
Faßt Tänzer um die Hüften.
Covid, covid!
Es lädt die Pest Corona
Die Krone aller Schöpfung
Zum Veitstanz grinsend ein
Und stößt mit ihrem Todeskuss
Das Tor weit auf zum Exitus.


III.
Corona, Corona!
Sie kreisen wie die Geier
Hoch über jetzt vergessnen Schätzen
Und sitzen fett auf leergefegten Plätzen.
Corona, Corona!
Der Sapiens steht starr vor Schreck.
Versteckt vor Schweiß und Träne
Sich in der Quarantäne.


IV.
Quarantäne, Corontäne,
Corona, corona!
Es klingt der Ruf wie Hohn,
Beklagt den lock-down in der „zone
Confinée » bei den Franzosen.
Corona, corona, corona !
So ächzt es in der « zona
Confinata » in Italien.
Entlang der Mauern streichen bleich Gestalten
mit Masken, weichen, meiden, halten
Mit weiten Seitenschritten
Distanz zum unsichtbaren Leiden –
Ein jeder bangt für sich allein.


V.
Corontäne, Quarantäne!
Da tobt die Schlacht der Viren.
Was, wenn wir sie verlieren?
Corona, corona!
Ertönt das Virusschreien,
Verschreckt und schockt.
Corona, corona!
Und droht und lockt:
Komm mit, komm mit!
Covid, covid!

Alexander Tschida // unterrichtet Französisch am Institut für Romanische Philologie der LMU in München. [Die Freude am Unterrichten der ars recte dicendi scheint sich ihm aus der gleichen Quelle zu speisen wie die Bewunderung für die Schönheit des Klanges, die Melodik des Satzes, den packenden Rhythmus, die Überzeugungskraft der Bilder.]

Lars Schneider: Start

Es ist soweit. Ab Montag, 16. März 2020, sind Kitas und Schulen geschlossen. Museen und andere öffentliche Einrichtungen waren am Samstag bereits dicht. Zeit, den Urlaub im hohen Norden zu beenden. Das aber verspricht nicht so einfach zu werden, da nun auch die Bahn ihre Taktung reduzieren will. Angesichts der Unwahrscheinlichkeit des Zugverkehrs im strukturschwachen Schleswig-Holstein steht das Schlimmste zu befürchten. Doch weit gefehlt, die (oder ist es ein R?) R7 ist überaus pünktlich. Drinnen so gut wie kein Mensch. Ganz anders als vor zehn Tagen. Genug Platz für das Töchterchen und mich – und einen Haufen Gepäck.


Die erwachsenen Fahrgäste wahren artig Abstand. Die Medienoffensive der letzten Tage zeigt Wirkung. Auch bei den Jugendlichen am Ende des Abteils, die sich begeistert anhusten. Der Humor verbreitet sich ebenso schnell wie das Virus. Witzigkeit ohne Grenzen. Und die ist um einiges konkreter als der noch sehr abstrakte Rest. Der junge Mann hinter uns ist auch lustig. Der hat keinen Fahrschein, weil sie im Radio ja gesagt haben, dass in den Regionalzügen ab heute nicht mehr kontrolliert werde. Dass es sich dabei nicht um einen Appell handelte, die Bahn fortan kostenlos zu nutzen, versteht er nicht. Der Zugbegleiter hält das für einen Scherz, der gute Mann aber begreift es wirklich nicht. Die Krisenkommunikation wird zur profunden Kommunikationskrise. An deren Ende muss er nachlösen. Ich zeige unser Ticket.


10 Minuten Aufenthalt in Neumünster. Normalerweise reicht das gerade mal zum Umstiegen. Heute ist das kein Problem. Der ICE aus Kiel steht schon bereit – menschenleer, doch voller Müll. Wir nehmen uns ein Abteil, in der Hoffnung, dass es hier nicht so penetrant riecht. Das ist zwar nicht der Fall. Doch immerhin kann man die Glastür zum Gang schließen. Aus dem Fenster fällt mein Blick auf den Bahnsteig. Da steht so ein heißer Typ mit Mundschutz. Sein Freund hat auch einen: „Ganz in weiß“, passend zu den Markensneakers. Beide genießen die Aufmerksamkeit, die ihnen ihr Fashion-Item verschafft. Dann aber merken sie, dass man mit den Teilen vorm Gesicht nicht anständig rauchen kann.


Als der Zug abfährt, ertönt eine Durchsage. Das Bordrestaurant, so heißt es, sei aus aktuellem Anlass geschlossen. Gut, irgendwas ist immer. Doch das ist nicht alles: Auf den Bordtoiletten stehe Seife zum Händewaschen bereit. Na dann. Und jetzt das Ganze auf Denglisch. Herrlich. Das war auch schon das Highlight der Fahrt durch die monotone Landschaft. Wir suchen nach Ablenkung. Nach einigen Unopartien spielt die Tochter mit dem interaktiven Kinderbuch. Ich tue es ihr gleich und entsperre das Mobiltelefon. Corona-Content (CC) in sämtlichen Ressorts auf allen Kanälen. Das hätte sich der Latour nicht besser ausdenken können. Mir kommen die ‚Virus-Künste‘ und -Theoriebildungen aus meinem Fachbereich in den Sinn – dann nicke ich einen Augenblick weg.


Im Altonaer Hipsterviertel ist von alledem nicht viel zu spüren. Die Frühlingssonne scheint, und die Leute verhalten sich wie zu Ferienanfang. Das wirkt aber ebenso befremdlich wie das Tragen von modischem Mundschutz. Wir bringen unser Gepäck zu Onkel C. in die Wohnung und unternehmen einen Spaziergang runter ans Elbufer. Im Fischers Park und in Övelgönne wimmelt es von Menschen. An Abstand ist nicht zu denken. Dem wird man Einhalt gebieten müssen, denke ich mir. Kurz darauf ärgere ich mich, dass die Pommesbuden zu haben (kein Spaß, wenn die Tochter Hunger hat). Abends am Küchentisch referiere ich darüber, dass das Vermeiden von Sozialkontakten das Gebot der Stunde sei. C. blickt zu mir auf: „Und warum macht ihr hier Zwischenstopp? Warum seid ihr nicht durchgefahren?“ Gute Frage. Ich glaub, es geht los.

 

Lars Schneider // Akademischer Oberrat auf Zeit an der LMU München. Seine wissenschaftlichen Interessen reichen von François Rabelais‘ Lyon über die „page blanche in der Literatur und bildenden Kunst der Moderne“ (so der Titel seiner 2016 veröffentlichten Habilitationsschrift) bis zu Virginie Despentes‘ Vernon Subutex-Trilogie.

Lisa Starogardzki: Erinnern

Ich zeichne jeden Morgen deine Züge
Ins Weiß. Und doch, mit jedem Stück Papier
Mehr Hintergrund und weniger von dir,
Und jeder einzelne gerät zur Lüge.


Ich seh dich schon zerfasern an den Rändern,
Im Nebel: Brauen, Lippen, klar und dicht,
Details wie Präparate, kein Gesicht.
Jetzt könnt ich dich – und will dich nicht mehr – ändern.


Und irgendwann, ja, werd ich dich verlassen,
Werd aufhörn, deine Maße abzuschreiten.
Doch jedes mal vermein ich, dich zu fassen,


Und spür dich dann aus meinen Fingern gleiten.
Bin nutzlos, einsam, lebe nur vom Hassen,
Und starre jede Nacht in weiße Weiten.

 

Lisa Starogardzki // Lyrikerin, derzeit Master-Studium der Älteren Deutschen Literatur an der Freien Universität Berlin. Zusammen mit vier anderen jungen Lyriker*innen und einer Musikerin hat sie 2019 die Berliner Lyriklesebühne déjà-vu gegründet.

Mareike Maage: Das Lächeln unter der Maske 

Das ist kein aktuelles Foto. Es ist vom 1. November 2019. Meine Tochter war sechs Wochen alt. Ich hatte Herpes.
Für Neugeborene ist Herpes gefährlich. Deswegen habe ich zwei Wochen mit all dem gelebt, was jetzt Mangelware ist. Ich habe mit Mundschutz und Gummihandschuhen geschlafen und flaschenweise Desinfektionslösung verbraucht, mein Handy nach jeder Berührung gereinigt, Schnuller weggeschmissen, von denen ich nur dachte, ich hätte sie berührt, immer die gleiche Tasse, denselben Teller und dasselbe Besteck benutzt und es weitab vom Geschirr der anderen gelagert. Ich wußte, was Schmier- und Tröpfcheninfektion unterscheidet und Studien zum Überleben von Viren auf nassen und trockenen, glatten und nicht-glatten Flächen waren meine Bettlektüren.
Normalerweise versuche ich Problemen dadurch zu begegnen, dass ich gut organisiert und vorbereitet bin.
Aber wie tritt man etwas Unsichtbarem gegenüber?
Ich habe auf Flächen gestarrt und versucht meine Bewegungen nachzuvollziehen, Klinken und Klobrillen abgewischt, um den Weg der Viren zu unterbrechen, und verzweifelte.
Ich wußte nicht, wo ich die Viren hinterließ. In meinem Kopf hafteten sie überall. Und dabei war ich allein. Das ist in diesem Fall etwas Gutes. Ich war der alleinige Virenträger in der kleinen Wohnung.
Manchmal stelle ich mir vor, wie es den Entscheidungsträgern jetzt geht. Ein ganzes Land Türklinken.
Wer ist heute souverän, Carl Schmitt?
Immer noch der, der über den Ausnahmezustand entscheidet?
Was ist mit den Wellen des Raumes? Rettet Information Leben?
Worunter fallen Viren?
In der kleinen Wohnung gab es Menschen, die mir das Kind abnahmen. Das waren Momente, in denen ich kurz die Falten verlor und der Kopfschmerz nachließ.
Ich konnte die Aufgabe in die Hände Anderer legen.
Die Aufgabe, für das Kind zu sorgen. Ihm die Nähe zu geben, die ich ihm nicht geben konnte. Das Kind zu schützen, ist mir Bedürfnis. Und das bedeutete Abstand.
Ich habe den Herpes von meiner Mutter bekommen. Sie war zwei Wochen vorher zu Besuch, um zu helfen. Vielleicht glaube ich das auch nur. Ich weiß, dass man Herpes immer in sich trägt und das er aktiv wird, wenn das Immunsystem schwächelt. So oder so, meine Mutter war schuld. Das war als Geschichte einfach zu gut. Durch die eigene Mutter wird die Hauptfigur zur Gefahr für ihre neugeborene Tochter. Wie aus dem Dramaturgie-Lehrbuch. „Eifersucht führt in den Tod“ – das wäre Othello. Man müsste an meiner Prämisse noch etwas feilen und dann handelt das Stück davon, wie die Frauen einer Sippe sich durch die gegenseitige Beseitigung am Glück hindern.
Im Theater ist das sicher interessant, aber leben und erleben möchte man das nicht. Schon gar nicht selbst die Gefahr sein. Man will nichts Böses für die Kinder, ich wechsele ins Allgemeine, weil gleich eine Stammtischweisheit kommt, man will nichts Böses für die Kinder und wenn doch etwas Böses an sie herankommt, dann soll es doch bitte von außen kommen, aus dem Konturlosen, aus der Fremde, aber doch nicht von mir.
Aber so war es nicht. Und das war das Schlimmste an der ganzen Situation. Ich hatte sie auf dem Arm, ich liebe sie und ich war die Gefahr.
Mutter – ist das ein Job, den man überhaupt „gut“ machen kann? Ich würde das ja gern gut machen. Auch das steht bei „Mareike“ auf der Inhaltsangabe. „Hier finden sie jemanden, der es immer gut machen will und deshalb gut vorbereitet ist.“
Aber wie bereitet man sich auf etwas Unsichtbares vor?
Ich denke an Japan, vier Wochen nach Fukushima und weiß noch sehr gut, wie ich über einen Koch scherzte, der glaubte, er könne die Strahlung weg kochen.
„Wie viele Frauen kennst Du, die ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter haben?“ frage ich meinen Freund. Keine? Mir fällt auch keine ein.
Um zu schützen, muss man Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die dem, über den entschieden wird, vielleicht nicht gefallen. Oder erst im Rückblick nicht gefallen?
Kann meine Tochter mich überhaupt mögen, wenn ich jetzt diesen ganzen Quatsch für sie entscheide? Was ist die Alternative? Eine befreundete Mutter weist mich darauf hin, dass das Kind doch ganz zufrieden auf dem Boden sei, als ich sie hochnehme. „Meine Mitbewohnerin würde das als übergriffig bezeichnen. Dem Kind gegenüber.“
In einer deutschen Fernsehserie gesteht eine Mutter ihrer Tochter unter Tränen, sie hätte ihr, also dem Kind, keine Regeln gegeben, weil sie doch ihre Freundin bleiben will. Und damit sie, also die Tochter der Mutter immer alles erzählt, hatte diese Regeln vermieden.
Aus irgendwelchen Gründen – ich kann nicht sagen warum – ist das für mich keine Option.
Meine Mutter hätte zuhause bleiben sollen mit ihrem Herpes und es wäre allen geholfen gewesen. Aber sie wollte uns sehen und weil sie uns so sehr sehen wollte, war für sie die Gefahr zweitrangig. So ist es aber leider nicht. Corona, Herpes oder das Aufheben vom Krabbelteppich – wann treffe ich eine Entscheidung für das Kind und wann treffe ich eine Entscheidung für mich. Das geht so oft durcheinander, denke ich, dabei müsste es doch ganz einfach sein. Ich kann das Kind nicht küssen, wenn ich Herpes habe, weil es dann vielleicht stirbt. Auch wenn ich es gern küssen möchte. Und ich kann meine Eltern jetzt nicht besuchen, auch wenn ich sie gern besuchen möchte. Mein Vater ist über 70 und hat starkes Asthma.
Der Herpes war nach zwei Wochen vorbei. Ich hatte noch so viele Atemschutzmasken übrig, das ich sie als Adventskalenderverpackung benutzt habe. Und dann kam Anfang Februar das nächste Kribbeln und die nächste Blase und da gab es keine Masken mehr und keine Gummihandschuhe. Desinfektionsmittel hatten sie noch, auch die großen Flaschen, aber die ließ ich stehen. Kann ich später noch besorgen, dachte ich.
Konnte ich nicht. Schon eine Woche später gab es keine Desinfektionslösung mehr.
Masken hat meine Mutter für uns genäht und nach Berlin geschickt. Ich habe sie heute das erste Mal getragen. Es hat sich seltsam sicher angefühlt. Meine Tochter war nicht überrascht. Sie ist so daran gewöhnt, mich mit Mundschutz zu sehen, dass sie weiß, wann ich lächele, auch, wenn sie meinen Mund nicht sieht. Dann lächelt sie zurück.

 

Mareike Maage // 1979 in Hannover geboren, Autorin, Künstlerin, Redakteurin. Kunststudium an der Bauhaus-Universität Weimar, sowie in Nagoya (Japan) mit dem Schwerpunkt Installation und Radiokunst. 2006 Stipendiatin der japanischen Regierung und des DAAD in Tokio. Sie zeichnet und schreibt Features und Hörspiele. Zuletzt: A.I.R. (Artificial Intelligence Rebellion) BR 2018. Seit 2013 Redakteurin für Feature beim RBB.
Photo: Karina Pasternak

Monika Raič: Im letzten Express nach Norden

An dem strahlenden Februarmorgen, an dem Miroslav „Mika“ Antić aus unruhigen Träumen aufschreckte, in denen er einen ehrenhaften Kampf, ohne Furcht oder Sentimentalität geführt hatte, bemerkte er, dass er viel zu spät dran war. Er musste es unbedingt zum Zug um 8:17 Uhr an den Bahnhof schaffen.
Nach dem Drehende seines Films »Doručak s đavlom« wollte er nur noch weg. Er wusste genau, dass der Film am 14. Juli anlaufen sollte und noch viel daran zu arbeiten war – aber das sollten die Produzenten jetzt organisieren. Antić konnte seit Wochen keinen klaren Gedanken fassen. Er lebte in Trance und Trauer. Er war schrecklich verliebt. Mit dem letzten Pfiff des Schaffners sprang er in den Zug und suchte drinnen nach einem leeren Abteil. Sein Ziel war Paris. Dort hatte er sich mit Danilo Kiš verabredet, der erst 20 Stunden später in den Zug von Straßburg nach Paris steigen würde. Es sollte ihre erste persönliche Begegnung werden.
In Belgrad hatten sie sich immer verpasst. Kiš schrieb sich an der Universität in dem Jahr ein, in dem Antić sein Studium der Slavistik beendet hatte und nach Novi Sad zur Zeitung Dnevnik ging. 1959 kam Antić zurück nach Belgrad. Kiš hatte sein Studium beendet und schrieb für das Vidici Magazin, während Antić beim Pionir tätig war. Sie wussten voneinander, waren sich nie zufällig begegnet und suchten auch nicht nach einer Gelegenheit. Das änderte sich jedoch, nachdem Antić, in vager Vorbereitung für ein zukünftiges Filmprojekt, Kiš’ Roman Psalm 44 gelesen hatte. Ihm wurde klar, dass sie auf eine außergewöhnliche Weise verbunden waren. Als er ihm daraufhin schrieb und ein Treffen vorschlug, war Kiš aber schon in Straßburg. Dort hatte er eine Stelle an der Universität angenommen. Sie schrieben sie sich deshalb seit 1962 Briefe.
Für ihre Korrespondenz hatten sie die folgende Abmachung getroffen: Kam ein Brief an, las man ihn man erst, wenn man gleich genug Zeit hatte zu antworten. Hatte man den Antwortbrief geschrieben, ihn in ein Kuvert gesteckt und frankiert, verbrannte man den empfangenen Brief. War die Neugier zu groß, die Zeit aber zu knapp, um gleich eine Antwort zu verfassen, durfte der empfangene Brief so lange leben, bis der Antwortbrief sein Dasein ablösen würde. Aus diesem Grund weiß heute niemand von der Existenz dieser Brieffreundschaft, so wie auch niemand über Antićs Ausflug nach Paris und das Treffen mit Kiš informiert war.
Die Ehrlichkeit und Offenheit ihres Austauschs hatten eine außergewöhnliche Form von Intimität erzeugt. Und Antić sehnte sich zunehmend nach der Möglichkeit, alles, was schwer auf ihm lastete, auszusprechen. In Erwartung dieses Gesprächs reiste Antić zu Kiš nach Paris. Einige Wochen zuvor hatte Antić ihm ein Gedicht gesandt, das er ins Deutsche übersetzen wollte. Gemeinsam hatten sie an einer Übertragung getüftelt. Im leeren Zugabteil holte Antić aus der Brusttasche seines Dufflecoats ein doppelt gefaltetes Blatt hervor. Auf der linken Seite stand das Original, auf der rechten der letzte Stand der deutschen Übersetzung:

Am 16. Oktober 1970 war Hanna Christian an das Set von Antićs letztem Film »Doručak s đavlom« gekommen. Antićs Kameramann hatte von ihr gehört. Nachdem Tito Honecker in Ost-Berlin besucht und ihm gesagt hatte »Erich, bei Euch in der DDR sieht’s ganz schön grau aus!« (das hatte in ganz Jugoslawien zu einer Welle eloquenter Witze über Deutsche geführt), brachten die Nachrichten häufiger Reportagen über die Deutsche Demokratische Republik. Darunter war ein Beitrag, in dem Hanna, die seit 1952 beim Deutschen Fernsehfunk als Kamerafrau arbeitete, zu Wort kam. Antić waren die differenzierten Argumente des Kameramanns über ihre besonderen Fertigkeiten an der Kamera gleich. Er hatte überraschenderweise genug Geld für das Projekt zusammenbekommen. Die Anreise dieser Frau konnte durch die Mithilfe eines Freundes aus dem Kultusministerium organisiert und bezahlt werden, »Soll er von ihr lernen, was er sich erhofft!«, dachte Antić.
Am Set pfiff Hanna eine Melodie, meistens wenn sie routinierte Arbeiten durchführte, z.B. wenn sie Kameraobjektive wechselte. An Hannas drittem Settag fragte Antić, welches Lied sie da immer pfeife. Sie drehte sich erschüttert um, starrte ihn ungläubig an und sagte: »Das ist der dritte Satz der neunten Sinfonie von Beethoven!« Ihre gepfiffenen Töne ähnelten nicht im Geringsten Beethovens Version, die Antić sehr gut kannte und liebte. Was Antić aber beobachtete und was ihn anzog, war die Reaktion ihres Körpers und Geistes auf diese Melodie: vollendetes Glück umgab ihren ganzen Körper wie eine orangefarbene Wolke. Dieses pújá traf Antić tief ins Herz. Er zettelte zunehmend Gespräche mit ihr an, mit immer neuen Fragen, die eigentlich unsinnig waren.
Auf russisch unterhielten sich Antić und Hanna zunächst über Beethoven, dann über Tarkovskij und schließlich über die Grenzen, die zwischen ihnen standen. Am 24. Oktober feierten sie Hannas Geburtstag. Erst mit der gesamten Filmcrew, bei der Hanna schwer beliebt war. Dann, nachdem alle gegangen waren, unternahmen sie zu zweit einen Spaziergang, der an diesem Abend nicht endete. Sie bogen irgendwann ab in weiße Laken und spazierten von da an, bar aller Kleidung, gemeinsam durch die Nächte. Niemand wusste davon. Als sie am 19. November das Set verließ und nach Berlin zurückkehrte, vergossen sie keine Träne. Sie hatten ein Wiedersehen für August verabredet. Den Ort und den genauen Zeitpunkt des Treffens wollten sie per Brief vereinbaren. Hanna hatte seine Adresse und sollte ihm schreiben, sobald sie Berlin erreichte. Aber eine Nachricht kam nicht an. Stattdessen hörte Antić, kurz nach Hannas Abfahrt, in den Radionachrichten von einem schweren Unfall, der sich auf der Zugstrecke ereignet hatte, die auch sie in Richtung Berlin zurücklegen musste.
Nun saß Antić im Zug nach Paris und Bilder seines wirren Traumes blitzen vor seinem inneren Auge auf. Diese Eindrücke versuchte er folgendermaßen zu ordnen: Er befand sich in einer anderen Zeit und die Welt war anders sortiert. Von Paris aus konnte er ohne Grenzkontrollen nach Berlin reisen. In Berlin gab es keine Mauer. Die Stadt war nicht nur nicht geteilt, sondern war auch Zufluchtsort für die, die an den Orten, in die sie hineingeboren waren, nicht bleiben wollten. Er traf Hanna. Sie spazierten durch den Volkspark Friedrichshain. (Hanna hatte ihm einmal von einem lustigen Indianerdorf darin erzählt.) Sie lachten über die Winnetou-Filme, die Plateauschuhe der Passantinnen und liefen in Richtung Tiergarten. Antić wollte diese Parkanlage durchschreiten, weil er insgeheim hoffte, barocke Ruinen neben Gemüsefeldern zu entdecken. Die Luft war angenehm. Manchmal zogen kräftige Windstöße durch. Sie erinnerten ihn an die Bora und Herbsttage auf Hvar. Plötzlich waren alle Menschen um ihn herum verschwunden. Antić stand alleine im Tiergarten und blickte auf eine Insel. Er hörte von allen Seiten ein surrendes Zischen, so als hätte jemand eine große Propangasflasche aufgedreht. Er ging vom Park auf eine große Straße, auf der zuvor in Neonfarben gekleidete Menschen blasiert und dicht gedrängt aneinander vorbeigehuscht waren. In der Ferne beobachtete er Einzelne im Laufschritt irgendwohin eilen. Er lief rückwärts und stieß mit einem Mann zusammen, der einen Mundschutz trug und grell rief: „Heee, pass uff! Sicherheitsabstand, altaaaa!“ Antić fürchtete sich. Dann sah er Hanna, rund vier Schritte von ihm entfernt. »Wohin war sie verschwunden?« Er lief auf sie zu, wollte sie umarmen und küssen. Sie bemerkte seine Absicht und wich zurück: „Сейчас слишком опасно! Мы оба можем умереть! Мне нужно домой. Береги свое сердце, Мика!“ Mit Hannas Ausruf endete sein Traum. Er wachte auf, sah auf die Uhr, sprang aus dem Bett und rannte los in Richtung Bahnhof.
Jetzt, am 19. Februar 1971, saß Antić im leeren Zugabteil. Er fuhr nicht nach Berlin, sondern nach Paris. In der rechten Hand hielt er das Blatt mit dem Gedicht und lehnte mit der linken Schläfe gegen das kalte Zugfenster. Plötzlich bemerkt er, zwischen dem Fenster und dem Kopfteil der gegenüberliegenden Sitzbank, einen Schlitz. Er richtet sich auf, nimmt das Blatt in beide Hände, faltet es sorgsam vier Mal, schiebt es vorsichtig in diesen dünnen Spalt und blickt nach links zum Fenster, in dem er sich leicht spiegelt.

Am 14. März 2020 um 19:02 Uhr donnerte Nada aus dem vierten Stock die Haustreppen herunter und setzte gleichzeitig ihre roten Beats-Kopfhörer auf. Danijela Martinović sang den Refrain »Ti si mi prvi virus u krvi / zbog tebe zdrava opet bolujem / ti si mi prvi virus u krvi / od tebe odlazim, a znam / da ti pripadam.« Sie schmunzelte, weil sie das Lied an ihre erste große Liebe Novica erinnerte. Das war 2001. Nach der Matura hatte sie sich einen Saisonjob in Makarska besorgt. Sie wollte während des Sommers lieber an der Adria arbeiten, als in Zagreb mit ihrer Mutter schwitzen. In Makarska lernte sie Novica kennen. Heute, 19 Jahre später, rannte sie zum Zug und verließ Zagreb wieder – endgültig. Dieses Mal hatte sie keine leichte Sommergrippe, sondern eine echte Virusinfektion. Im Radio hatte sie gehört, dass die Grenzen in Europa schließen werden. Sie googelte sofort und fand heraus: »Zur weiteren Eindämmung der Infektionsgefahren durch das Corona-Virus, werden ab dem 16. März vorübergehende Grenzkontrollen eingeführt. Die Kontrollen an den Binnengrenzen zu Österreich, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Dänemark gelten zunächst bis zum 14. April 2020.«
Diese Information zurrte ihre eigentlich schon längst klare Entscheidung fest: Sie sagte Bruno in ruhigem Ton, dass sie keine Lust mehr auf seine Unentschlossenheit, seine Beleidigungen und sein Selbstmitleid hatte. Dann etwas energischer: »Du siehst überhaupt nicht so gut aus wie Du denkst, und weißt Du was: HipHop ist nicht tot – aber Tupac schon!« Sie ging ins Schlafzimmer und packte in ihren Rucksack nur wenige Lieblingsklamotten und genug Tangas für eine Woche. Aus dem Bad nahm sie nur die Zahnseide und ihre Zahnbürste mit. Mit der Zahnpasta malte sie ein Smileygesicht in das Waschbecken. »Vielleicht entwickelt er eines Tages Humor!«
Nadas Vater war im Krieg gefallen. Ihr Bruder auch. Sie und Ihre Mutter blieben zurück, aber nach dem Krieg schaffte es die Mutter nicht, sich wieder ins Leben einzuhaken, so wie sie sich bei Nada unterhakte, wenn sie durch die Stadt spazierten. Nada tat für sie, was sie konnte. Als sie eines Tages von der Uni nach Hause kam, das war im November 2001, hatte die Mutter ihrem körperlichen Leben ein Ende gesetzt. Das Döschen mit dem Arsentrioxid, das sie gegen ein Geschwür verschrieben bekommen hatte, lag leer neben ihr auf dem Bett. Nada war nicht erschüttert. Sie trauerte sehr um ihre Mutter und wusste gleichzeitig, dass es keinen anderen Ausweg hätte geben können. Sie kümmerte sich um eine festliche und ruhige Bestattung. Danach räumte sie die Wohnung um. Jetzt war sie ganz alleine. Mit der Mutter war das letzte Stück Familie verschwunden. Geblieben war ihr die Eigentumswohnung. Weihnachten verbrachte sie bei der Familie ihres Kindergartenfreundes Bruno. In ihrer Wohnung bekam sie Besuch von den Freundinnen und Freunden, die Pause von der Weihnachtsquarantäne mit der Familie brauchten.
Der Beginn des Jahres 2002 stand unter einem guten Stern. Nada hatte ihr erstes Semester im Medizinstudium erfolgreich absolviert, im Februar hatte sie alle Klausuren geschrieben und bestanden. Kaum hatte das Sommersemester begonnen, ereignete sich am 22. März 2002 um 6:24 Uhr ein fürchterliches Erdbeben. An jenem Freitagmorgen war Nada schon um 6 Uhr aufgestanden, um beim Frühstück Vokabeln für das Seminar »Medicinski njemački I« zu üben. Als sie das Beben bemerkte, schaffte sie es noch in ihre Schuhe und rannte auf die Straße. Von der Menschentraube aus, in der sie auf dem Britanski trg stand, beobachtete sie, wie das Haus an der Ecke Ilica, in dem sich ihre Wohnung befand, zusammenstürzte. Nada drückte das Buch mit den deutschen Medizinvokabeln fest gegen ihre Brust und zog den linken Mundwinkel nach oben.
Anders als nach dem Beben vom 9. November 1880, das viele als Vergleich heranzogen, sorgte das Märzbeben 2002 weder für einen Modernisierungsschub noch für irgendetwas anderes, das man zunächst hätte gutheißen können. Um sich das Leben, in dem sie nun auch keine Wohnung mehr hatte, leisten zu können, brauchte Nada ein volles Einkommen. Sie legte das Medizinstudium auf Eis und begann eine Ausbildung zur Krankenschwester. Der Alltag war sehr hart und die viele Arbeit schlecht bezahlt. Der Gedanke einen systemrelevanten Job zu haben, gab ihr, ebenso wie die Dankbarkeit der Patienten, manchmal Kraft. Wenn sie genug Geld zu Seite gelegt hätte, würde sie das Medizinstudium wieder aufnehmen.
Als 2008 nicht nur die kaputte kroatische, sondern die Weltwirtschaft zusammenbrach, begann sie eine romantische Beziehung mit Bruno. Bruno hatte viele Geschäftsideen, aber keine Arbeit. Nadas Verdienst im Krankenhaus reichte, um über die Runden zu kommen. Wenn sie das Studium jemals wieder aufnehmen wollte, musste sie raus aus Kroatien, irgendwohin, wo sie wirklich Geld verdienen konnte. Sie hörte, dass man in Deutschland händeringend nach Pflegekräften in Altenheimen suchte und machte eine Umschulung in Banja Luka. Die Kosten dieser Zusatzausbildung waren in Bosnien um die Hälfte günstiger, selbst wenn man die notwendigen Bustickets miteinberechnete. Nach vielen Bewerbungen, bekam sie ihre erste Stelle in einem »Wohnstift« in München, das ganz in der Nähe der Isar lag. Sie dachte, das sei ein guter Start. Von Freunden, die München einmal zum Oktoberfest besucht hatten, hatte sie nur Gutes über diese Stadt gehört. Lange hielt sich es dort aber nicht aus. In München regnete es immer und sie konnte keine Freunde finden, weil sie sich weigerte, Bier aus Litergläsern zu trinken.
Von 2013 bis 2019 waren Nadas Stationen: Frankfurt am Main, Leipzig, Bielefeld und Hannover. Sie arbeitete meist sechs Wochen am Stück und kehrte dann für zwei Wochen nach Zagreb zu Bruno zurück. Insgeheim wusste sie, dass sie ihre Arbeitsorte stetig weiter nach Norden schob, um mehr Zeit im Zug und weniger mit Bruno in Zagreb verbringen zu müssen. 2019 bewarb sie sich auf eine Stelle in Berlin. Sie wusste, dass ihr Medizinstudium mittlerweile in die Souvenirkiste gehörte und sie gar nicht mehr nach Zagreb zurückkehren wollte. Aber da war Bruno, der auf der Couch in ihrer gemeinsamen Wohnung saß und immer etwas auf dem iPad las …
In Berlin fühlte sie sich schnell wohl. Sie pflegte jetzt nicht mehr Senioren, sondern Menschen mit geistiger Behinderung. Die Arbeitstage waren lang und ermüdend, sie erinnerte sich oft an ihre Mutter. Im Supermarkt lernte sie eines Tages Ana kennen, die in Belgrad geboren, aber nicht aufgewachsen war. Die Freundschaft wurde schnell innig, was vermutlich daran lag, dass sie sich in »ihrer« Sprache unterhalten konnten. Mit Ana sprach sie auch über Bruno. Ana sah die Lage nicht nur klar, sondern fand auch deutliche Worte und überredete Nada, Tinder zu installieren. Sie schickte ihr Fotos, die sie von ihr, bei Spaziergängen und anderen Unternehmungen, geschossen hatte.
So lernte Nada Ludwig kennen. Am 19. Februar matchten sie, sechs Tage später schrieb er ihr. Sie las seine Nachricht, als sie gerade ihre Schicht beendet hatte und einen Abendspaziergang zum Nordbahnhof entlang der Gedenkstätte Berliner Mauer unternahm. Im Pflegeheim herrschte seit einigen Tagen eine seltsame Stimmung. Im Westen Deutschlands war im Februar ein Virus ausgebrochen, der nun in aller Munde war. Schon Ende Februar waren die Kalauer über Corona verschwunden, Bangen breitete sich aus. Ludwig fragte Nada in seiner ersten Nachricht, was der absurdeste Gegenstand in ihrer Wohnung war. Sie sagte »ein Mundschutz«. Mit Ludwig fand Nada ganz natürlich zu unterschiedlichen Gesprächsthemen. Sie versüßten einander den Alltag mit der unbeschwerten Art ihres Chats, obwohl sie auch über ernsthafte Dinge sprachen. Ludwig hatte nie ein Treffen vorgeschlagen und, obwohl sie es sich wünschte, wollte Nada nicht danach fragen, denn es gab ja Bruno. Am 4. März stieg sie in den Zug nach Zagreb, die Tickets waren lange gebucht. Auf dem Weg zum Bahnhof schrieb Ludwig ihr eine Nachricht und schlug ein Treffen vor. Sie verabreden sich für den 26. März, wenn sie zurück in Berlin sein würde. In der Zwischenzeit schrieben sich täglich Nachrichten über den Messenger »Signal«, den Bruno nicht benutzte. Sprachnachrichten schickten sie sich nicht, auf Videotelefonie waren sie auch nicht gekommen. Die Ehrlichkeit und Offenheit ihres Austauschs hatten eine außergewöhnliche Form von Intimität geschaffen.
Jetzt war es 20:17 Uhr am Sonntag, den 14. März 2020. Nada saß im Abteil eines alten Nachtzuges: erschöpft von der Schnelligkeit, die sie ihrem Körper, nach der Entscheidung abzuhauen, zugemutet hatte; euphorisch, weil sie in Richtung Norden aufbrach; ängstlich, weil sie nicht wusste, ob sie noch über die Grenzen und nach Berlin kommen würde.
Sie lehnte mit der linken Schläfe gegen das kalte Zugfenster. Draußen war es dunkel, sie spiegelte sich im Fenster und starrte lieber auf die gegenüberliegende Seite. Plötzlich bemerkte sie einen dünnen Schlitz zwischen dem Fenster und dem Kopfteil der gegenüberliegenden Sitzbank. In der Lücke schien ein Blatt zu stecken. Sie zog das Papier vorsichtig heraus, faltete es auf und las ein Gedicht mit dem Titel »Ekspres za sever« und seine deutsche Übersetzung. Beide Versionen las sie mehrmals.
Der Zug hatte inzwischen Ljubljana erreicht. Sie faltete den vergilbten Zettel sorgsam vier Mal und schob ihn in einen leeren Kartenschlitz ihres Portemonnaies. Währenddessen dachte sie: »Das ist die Welt!«. Im selben Moment, in dem der Zug wieder losfuhr, korrigierte sie sich: »Die Welt ist immer da, wohin wir gerade nicht dürfen.«

 

Monika Raič // Nach Abschluss ihrer Promotion zu „Kosmopolitischen Spuren bei Gustave Flaubert und Roberto Arlt“ derzeit wissenschaftliche Mitarbeitern am Institut für Romanistik der HU Berlin, wo sie ein Habilitationsprojekt zur „Kulturgeschichte der Einsamkeit“ entwickelt.

Anne Siegetsleitner: Notizen einer Philosophin im Ausnahmezustand
Hannah Arendt zum Gedenken

Woche 1 und 2
Im Unterschied zu manch anderen, so zumindest der mediale Anschein, habe ich keinerlei Zeit zu vertreiben, sondern bin angespannt konzentriert, während ich einen ganz neuen beruflichen und privaten Alltag durchlebe und die politischen Entwicklungen verfolge. Neben der nun auf digitale Plattformen umgestellten Lehre will ein Beitrag über den Digitalen Wandel fertig geschrieben werden – eigenartig, wie vermeintlich zunehmend digitale Wesen plötzlich so viel Klopapier hamstern –, unzählige Seminararbeiten und Forschungsanträge liegen auf meinem digitalen Stapel, während ich mit Kolleginnen und Kollegen nicht ohne Irritation an einem Konferenzband zum Thema „Krise und Kritik“ weiterarbeite. Grund zu Gelassenheit gibt mir als Philosophin, die sich mit ethischen, politischen und rechtsphilosophischen Fragen beschäftigt, wenig; ganz zu schweigen von den anderen Ausnahmezuständen als Mutter und Ersatzlehrerin. Österreich führt – für bestimmte Bevölkerungsteile – mit erstaunlichem Elan die Ganztagsschule ein: für Kinder, Lehrende und Eltern.

Wir sind nicht im Krieg. Dennoch kommen mir Schilderungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs in den Sinn. Unabhängig von einem historischen Vergleich gibt es allen Grund, diese Corona-Krise nicht zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts werden zu lassen.
Hannah Arendt ist wie so oft eine verlässliche und aufmüpfige Mitdenkerin. Dies ist gegenwärtig besonders naheliegend, würde ich doch ohne diese außergewöhnlichen Umstände eine Arendt-Vorlesung halten. Ich schlage meinen Studierenden Texte zur Lektüre vor. Nach zwei Wochen eröffne ich ein Diskussionsforum zur philosophischen Reflexion der gegenwärtigen Veränderungen im Lichte von Arendts Denken. Bald kommen besorgte Einträge. Der Ruf nach autoritären Maßnahmen in diesen Zeiten erschrecke. Fragen nach der Verhältnismäßigkeit einzelner Maßnahmen, nach deren konkretem Nutzen, aber auch nach den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgeschäden gingen im Kampf gegen den unsichtbaren Feind unter. Wiederholt wird auf Beiträge zu Überwachungsmethoden verwiesen.

Eine technisierte Polizei unter totalitären Bedingungen träumt davon, mit einem Blick auf die Riesenkarte an der Bürowand ausfindig machen zu können, wer zu wem Beziehungen hat.
(Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 899)

Im Medizinethik-Seminar eröffne ich aus gegebenem Anlass ein Diskussionsforum über Richtlinien für die medizinische Triage bei an Covid-19 Erkrankten. Alles läuft im Katastrophenmodus. Nach außen hin sind die Universitäten vermeintlich geschlossen.

Woche 3
Die Menschen sollten der Regierung – gefälligst! – vertrauen, wird drohend verlautbart. Doch sollten Regierende nicht mindestens ebenso sehr den angeherrschten Regierten vertrauen? Herrschaft als klare Befehl-Gehorsam-Struktur gilt wieder einmal als alternativlos. Menschen werden wie bloße Mittel zum Durchsetzen von Regierungszielen, die noch dazu ständig abgeändert und diffuser werden, adressiert. Wann ist das Ziel „möglichst wenige Tote“ erreicht?
Widersprüche werden immer weniger akzeptiert. Selbst wenn die verordneten Maßnahmen gerechtfertigt sind, sind diese keineswegs selbstverständlich. Ist es nicht schlichtweg die Aufgabe mündiger Bürgerinnen und Bürger, Fragen zu stellen und Antworten einzufordern? In einer liberalen Demokratie sollte es keinen willkürlichen Abbruch der Debatte geben, damit aus dem nationalen Schulterschluss kein nationaler Würgegriff wird. Jeder ausgerufene Ausnahmezustand birgt totalitäres Potential, ungeachtet dessen, ob es genützt wird oder nicht.
Der Raum der Öffentlichkeit als Raum der Begegnung, des Sich-Zeigens und Handelns beginnt zu schwinden.

In der Geschichte sind die Zeiten, in denen der Raum des Öffentlichen sich verdunkelt und der Bestand der Welt so fragwürdig wird, daß die Menschen von der Politik nicht mehr verlangen, als daß sie auf ihre Lebensinteressen und Privatfreiheit die gehörige Rücksicht nehme, nicht selten.
(Arendt, „Gedanken zu Lessing“, 20)

Rücksicht auf Privatfreiheit wird im Übrigen gar nicht mehr verlangt. Das gilt offenbar bereits als ungebührlicher Luxus. Überleben bekommt absolute Priorität, als ob der Weltuntergang vor uns liegen würde, der nur durch eine autoritäre Herrscherfigur abzuwenden wäre. „Koste es, was es wolle!“, kann im politischen Kontext wohl nur eine Drohung sein.
Mobilitätsdaten von Handys zeigten, wohin die Gäste aus Tirol das Virus mitgenommen haben. Hätte dazu ein Blick in die Buchungsdaten der Hotels nicht gereicht?
Was gilt schon Bewegungsfreiheit gegen Leben?

Von allen spezifischen Freiheiten, die uns in den Sinn kommen mögen, wenn wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungsfreiheit nicht nur die historisch älteste, sondern auch die elementarste; das Aufbrechen-Können, wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde des Frei-seins, wie umgekehrt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbedingung der Versklavung war.
(Arendt, „Gedanken zu Lessing“, 17)

Woche 4
Eine Freundin befürchtet, als Onkologie-Patientin zwangsweise ins Haus gesperrt zu werden, zu ihrem eigenen Schutz und gegen ihren Willen. Auch die alten, besonders gefährdeten Menschen fragt niemand. Die, die sich in Institutionen befinden, werden, ohne ihnen viel Schutz bieten zu können, eingesperrt. Auf dass nur die Todeszahlen nicht steigen. Nachfragen, wenngleich aus Sorge, gelten als Verrat. Dabei passt ein kühler Kopf hervorragend auf ein warmes Herz. Darauf hinzuweisen, dass auch ansonsten Menschen sterben und es nicht immer die beste Entscheidung ist, die letzten Stunden auf einer Intensivstation zu verleben, entspringt keinem Zynismus, sondern Lebenserfahrung. Auch jetzt werden wir den Tod nicht endgültig besiegen, nicht einmal zu Ostern. Jede Geburt gebiert einen neuen Tod. Besonders ältere Menschen wissen das. Warum lassen wir sie nicht selbst entscheiden, anstatt sie paternalistisch zu bevormunden? Oder sind in den Heimen ohnehin nur jene in dieser Hinsicht Vernachlässigbaren, die sich keine 24-Stunden-Betreuung leisten können? Vernehmbar ist vor allem das Erschrecken jener, die sich gerade noch im zweiten oder dritten Frühling wähnten und nicht wahrhaben wollen, dass sie sich eher im Herbst ihres Lebens befinden. Als wie bedrohlich das Virus empfunden wird, dafür scheint nicht zuletzt entscheidend, wie groß die Angst vor dem Tod, dem eigenen und dem anderer, ist. Wie viele andere Angehörige weiß ich, was es heißt, entscheiden zu müssen, auf welche Art ein alter Mensch bei einer jener Infektionen, die wir, obwohl lebensbedrohlich, als gewöhnlich hinnehmen, noch medizinisch behandelt wird. Die Todesfälle in einen Kontext zu setzen, ist kein Aufrechnen oder gar Geldeinheitenzuordnen.

Die sozialen Gräben klaffen sichtbarer auf. Es zeigt sich unhinterfragt, wie viel mehr Bewegungsfreiheit beispielsweise ein eigenes Auto ermöglicht. Die Fahrt zum Zweitwohnsitz? Kein Problem! Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum einsamen Spazierengehen? Welch ungehöriges Ansinnen! Was kommt als nächstes? Die Förderung der Swimmingpools, weil die öffentlichen Bäder nicht aufsperren können? Es wird auch dieses Mal welche geben, die von der Krise profitieren. Das waren jedoch nie die Soldaten, die bei der Abfahrt an die Front beklatscht wurden. Die „Heldinnen und Helden des Alltags“ werden es dieses Mal ebenso wenig sein. Ihnen wird in aller Selbstverständlichkeit wie jeher alles zugemutet.

Der österreichische Umgang mit dem Recht soll sich abermals bewähren. Möglichst harte Verbote werden für jene, die sich’s richten können, mit einem Augenzwinkern proklamiert. Manche können auf ihrem eigenen Grund und Boden ohnehin stundenlang spazieren gehen, durch Wälder streifen und über Berge wandern. Von den anderen wird umso härter verlangt, sich tatsächlich nach den Vorgaben zu richten. Für sie verschwindet aus dem „law and order“ sogar das „law“; Ordnung per Verordnung und Organstrafverfügung ohne Rechtsmittel.

Alles wird auf den Kampf zwischen Wirtschaft und nacktem Leben reduziert, als wäre die Situation damit angemessen erfasst. Es geht bei der Wirtschaft letztlich ebenso um Lebensgrundlagen, und dem bloßen Überleben stehen – neben vielem anderen – Lebensqualität und Grundprinzipien unseres politischen Systems gegenüber. Tragen wir gerade das Fundament ab, weil der Sturm das Dach wegzufegen droht?
Eine Tageszeitung bittet um einen Beitrag (Hämmerle 2000). Es soll einer ohne das Beschwören von Muße und ohne Zynismus sein, keine weitere Verlautbarung. Von letzteren bekommen wir jeden Tag im Überdruss. Der wichtigste Beitrag der Philosophie wird, so ist zu hoffen, ohnehin Semester für Semester an den Universitäten geleistet, wenn der kritische Geist wachgehalten und geschärft wird. Wissen über Totalitarismen sowie Foucaultsche Bio-Politik kann in Zeiten wie diesen durchaus als Anknüpfungspunkt im Analysieren und Verstehen dienen. Es keimt dem Frühling entsprechend leise Hoffnung: Die Universitätspolitik möge das, was sich nicht in Prüfungsaktivität messen lässt, irgendwann wieder zu schätzen wissen. Philosophie lehrt, Fragen (anders) zu stellen.

Für jene gesellschaftlichen Gruppen, denen auch ansonsten immer alles zugemutet wird, gelten angekündigte Schutzmaßnahmen selbstverständlich nicht. Die Aufrechterhaltung der Grundversorgung (für die besser Gestellten) und der kritischen Infrastruktur geht vor. Zähle ich als Philosophin eigentlich ebenso zur kritischen Infrastruktur?

Aufschriften auf den Masken sind übrigens nicht verboten: „Ich schweige nicht.“

Ostern
Frühsommerliche Temperaturen lassen mich in lang vermisster Muße wieder nach einem beschaulichen, nein, beharrlich schauenden, Handke greifen. Doch der Rückzug aus dem Politischen gelingt nicht: „Noch jung, hatte ich eines Tages in einem Maskenzug jemand Unmaskierten gehen sehen und gedacht: ‚Stolz geht nur der Unmaskierte!‘, und dann: ‚Nie wieder will ich Masken sehen.‘“
(Handke, Die Obstdiebin, 104)

Aber zeigt sich nicht, wie die Menschen durch Krisen wieder zusammenfinden? Wie sie sich gegenseitig unterstützen? Bei allem bleibt es die Menschlichkeit der Aus- und Eingesperrten. Solche Menschlichkeit ist leider nur zu oft lediglich der Not und der Unterdrückung geschuldet.

Die Menschlichkeit der Erniedrigten und Beleidigten hat die Stunde der Befreiung noch niemals auch nur um eine Minute überlebt.“
(Arendt, „Gedanken zu Lessing“, 26)

Woche 5
Hatte bei den Gesetzen und Verordnungen alles seine rechte Ordnung? „Ob alles auf Punkt und Beistrich in Ordnung ist, wird am Ende des Tages der Verfassungsgerichtshof entscheiden.“ („Kurz plant keine Änderung“) Zu diesem Zeitpunkt würden die Maßnahmen aber ohnehin nicht mehr in Kraft sein, sagte der Kanzler. Grund- und Freiheitsrechte als Punkt und Beistrich. Wobei wir wissen, dass selbst spitzfindige Kommata einen entscheidenden Unterschied markieren können: Komm, wir essen, Opa! Komm, wir essen Opa!

Ich werde eine Maske tragen, die zeigt, was sie für mich ist: eine medizinische Maßnahme und kein modisches Accessoire zur ordentlichen Gesichtsverhüllung. Schon gar nicht werde ich Masken nähen. Zu sehr fühle ich mich wiederum an historische Ereignisse aus der Zeit des Ersten Weltkriegs erinnert: „Gerade Vertreterinnen der Frauenvereine aller politischen Lager hatten in den ersten Kriegsmonaten die Frauen mobilisiert, als ‚Soldatinnen des Hinterlandes‘ ihren Beitrag zu leisten. Es wurden Näh- und Strickstuben eingerichtet, die ‚Liebesgaben‘ (z.B. Socken, Leibwärmer) für die Front herstellten, und ‚Kriegsküchen‘ betrieben.“ (Barth-Scalmani, „Tiroler Frauen im Krieg“, 29) Nein, wir sind noch immer nicht im Krieg. 

Das anhaltend schöne Wetter verführt zur neuerlichen literarischen Lektüre und neuem Optimismus: „Gut gesagt! recht gut! sagte Candide, allein wir müssen unsern Garten bestellen.“ (Voltaire, Candide: oder Die beste der Welten, Schluss)

Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Piper 2001.

Arendt, Hannah: „Gedanken zu Lessing: Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“, in: Arendt, H.: Menschen in finsteren Zeiten. Piper 2001, 11-42

Barth-Scalmani, Gunda: „Tiroler Frauen im Krieg. Übergroße Belastungen aber kein Schub in Richtung Emanzipation“, in: Tiroler Landeszeitung. Juni 2014. https://www.landeszeitung.at/uploads/weltkrieg_web.pdf (Letzter Zugriff: 20. April 2020)

Hämmerle, Walter: „Es gibt immer mehr als nur ein Ziel. Ein Ökonom und eine Philosophin im Gespräch über Auswege aus der Krise und die Notwendigkeit offener Diskussionen.“ https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/2057103-Es-gibt-immer-mehr-als-nur-ein-Ziel.html

Handke, Peter: Die Obstdiebin. Suhrkamp 2019.

„Kurz plant keine Änderung“. ORF.at, 14. April 2020. https://orf.at/stories/3161820/ (Letzter Zugriff: 21. April 2020)

Voltaire: Candide: oder Die beste der Welten. Reclam 1986.

 

Anne Siegetsleitner // Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Innsbruck und Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie . Neben der Allgemeinen und Angewandten Ethik bilden Politische Philosophie und Sozialphilosophie (z. B. das Denken Hannah Arendts) ihre Arbeits­schwerpunkte.

Franziska Teubert: Blaue Nachzügler 

Der Gutmensch singt seine Sonate
ob nun als gestandener Antikapitalist oder Pankower Baumpate
zieht er sich vergebens Hammer und Harfe zu Rate
fragt sich, ob das richtige Gedankengut
heut wohl noch irgendwas zur Sache tut
wo’s doch andächtig unruhig tief in den Marbacher Bunkern ruht
und im östlichsten Freistaate zittert’s schon ordentlich durch die Mandate

Zum Auftakt erstmal ein eingeschweißter Hochglanzfakt:
Bloch pfeift aus dem letzten Loch
und wer redet denn noch von Landauer –
in der Spandauer
Vorstadt huldigen sie den wahrhaft Schuldigen einer späteren Stunde
»Heß« erklingt’s kess aus dem neonazistischen Munde
Da hilft’s auch nicht, sich den Bernstein auf’s Aufbackbrötchen zu schmieren
und im Einton der deutschen Pentapartito mitzutirilieren

Für Weib und Kind rauchen fortan die Schlote
postulierte einst Mühsam, was für ’ne ulkige Schote
Im Priesterwälder Totentanz
klang das alte Xylophon
und aus dem Drahtverhau von drüben weht ein einzig klarer Ton
einmal Mensch sein und ganz
Aber zum Henker mit dem Schlieffenschlenker:

Das Anthropozän gähnt und erwähnt ganz unverschämt
unser Weltende macht auf halber Strecke Kehrtwende
Für’s Incipit vita – gibt’s nicht genügend Plätze in der Kita
Der alte Baal geht uns gewaltig auf die Kette (wenn nur mal einer seine goldene Antwort verständen hätte)
Dacht’ er wär wohl recht kühn
als er dem Lazarettrat im behaglichen Augsburg beitrat
ringsum wird gestorben und du ärgerst dich grün
weil der Fahrkartenkontrolleur kein Mitleid mit dir hat
Und statt Fontaneschen Kugelakazien
kontempliert man an der Friedrichstraße ein paar neue Aktien
Das Produktionsverhältnis im diesseitigen Paradies:
Gestatten, den neuen Grafen vom Westhafen,
der Marchese zu Vattenfall
weit entfernt von Borcherts Nachtigall,
Kolibri und Kabeljau und von Georgs Wein wie Morgenthau
nun ist Schluss mit Nelke, Nuss und Nimbostratus
’s ist Zeit für Plastiklava, Batterie und ’nen Schuss Antibiotikum im Fluss
Das Rad der Geschichte rollt mit gewaltigem Gewichte
(haut alle Welt in seine Pfanne, unbeschichtet!)
Drauf geritten, mit gehörig verfallenen Sitten und auseinanderdriftenden Mitten
sprengt salopp im Galopp der Mensch zu seinem Thron
und verkündet ganz eukalyptisch und apodiktisch
seinen lahmenden Eschaton

Atlas kratzt sich schon besorgt an seinem steinigen Bart
Seine Töchter raufen in ihrem ganz eigenen Sternenhaufen
Bin ich noch Rückgrat oder schon Zierrat?
So wie das Weltbild schwankt, hat er abgedankt
mit Wilhelm, Nicki und Young Moltke
und verdattert wird gefragt, das Opiat:
für welches Volke?
Klar ist: ’s ist nicht eins unter der radioaktiven Wolke

Von Weltkriegsboyband bis Treuhand verging das Jahrhundert,
einer meinte, es stünde unbewundert, ein anderer, es leuchtete rot
(und fragte im selben Atemzug in Festungshaft Niederschönenfeld nach einer Scheibe Brot)
Was nun?
Man folgt lieber dem, der sich bemüht, es in die Schranken zu weisen:
Diesmal auch gemeinsam mit Kropotkins Ameisen

Neue Lyriden braucht es hienieden
die alte Leier gegen die spätkapitalistische Fortschrittsfeier
das vivir bien no mejor aus ältester Zeit und davor
Mensch und Welt: kosmopolitisch und kritisch
zu Klimasachbuchfaktenflut und Manifest (der globale Blick macht dann den Rest)
sonst gibt’s bald, nachdem er erlischt
den Löffel Golfstromsorbet zum Nachtisch

Wie es wohl wär, man wär imstande
über die Änderung der Perspektive, den Rückzug zu erwirken aus der anthropogenen Offensive –
Begegnung heißt die Konterbande
in diesem Krieg (und so auch vielleicht der Sieg)
Dabei gilt’s, ja nicht wieder den goldenen Weizen auszureizen –
Monte Verità funzt nicht in Manhattan! 
genauso wie der alte Traum, die Umwelt bloß zu retten
an der Frage krankt: Wer liegt hier eigentlich wem überall in Ketten?
’S braucht die urneue Netzwerkvision
und in unserer maßlosen Dimension
macht die Phantasie vom genügsamen Roboter
vielleicht auch schon ganz schön was her

Also: Wirf’s Plastikkrönchen weg zum guten Zweck
Pack das non plus ultra an der Schulter
und mach dir ’ne neue Kosmologie produktiv
alles Weltverhältnis hängt sowieso schief
und antworte der neuen Natur, die da rief
im Gegensatz zu dem, der’s im Holozän
so prächtig verschlief
Sonst bleibst du dein eigener Halsabschneider
und der Anthropozentrismus
nichts als ein beißender Euphemismus
für unseren heillosen Weltverlust
hier unten im pappweinwarmroten August

 
Franziska Teubert // Studiert im Master Europäische Literaturen an der HU Berlin.

Theresa Patzschke übersetzt »Mercury Station« von Mark von Schlegell.

ein Auszug

DAS GESETZ DER REISENDEN

Nachdem jene Kreatur den Bogenschützen und den Doktor einander vorgestellt hatte, machte die kleine Gruppe sich auf den Weg. Dieser war bemerkenswert. Um der Flut zu trotzen, lag er erhöht auf einem Damm aus Uferschlamm. Seine geometrische Präzision teilte den Horizont wie ein Gradmesser. Und als sie diese unendliche und makellose Steinstraße in Richtung der berühmten Hanseburg von B. eine Weile entlanggewandert waren, kam ihnen eine Gruppe von Rittern entgegen. Es waren Teutonen von der gleichen Sorte wie der, den sie erschlagen hatte.
Sie versteckten sich abseits der Straße, als die Mörder vorübergingen.
Es waren viele. Weiß gekleidet und gepanzert in Stahl. Ihre geschärften Waffen blitzten. Ihr Klang war schwer und unaufhaltsam. Zwei eiserne Pferde zogen einen Wagen, genau wie Trusty es verkündet hatte. In ihren Fässern war jedoch Kalk und kein Wein.
„Für die Verbrennung der Leichen“, flüsterte Scariot.
„Sollten wir die Diebe warnen?“
„Es ist fraglich“, sagte Lawful, „ob sie die Zeichen verstehen werden.“
Dennoch legten sie Zeichen in die Luft und der Doktor half ihnen dabei. Sie sah, wie der Doktor und der Schütze sich misstrauisch beäugten, wenn einer von ihnen sprach. Aber es gab ein Gesetz der Reisenden, welches besagte, dass man zusammenbleiben sollte, sofern die Umstände es erlaubten. Und während sie der Straße folgten, vertieften sich die beiden schon bald in ein eifriges Gespräch, als wollten sie sich gegenseitig ihre intellektuelle Überlegenheit beweisen. Jene Kreatur nutzte diesen Wettbewerb für sich, um neue Informationen über das Gebiet in Erfahrung zu bringen, in das sie gelangt war.
„Was ist das für ein Land?“, fragte sie die beiden.
Llw erklärte, dass sie sich im Grenzbereich von mehreren Gebieten befanden, auf welche unterschiedliches internationales Interesse bestand – westliche Mächte wollten ihre Herrschaftsgebiete nach Osten hin ausweiten und östliche Mächte ihre nach Westen. Das Königtum war in diesen Breitengraden von räuberischen Teutonen, Litauern, Katholiken, wandernden Söldnern und der Hanseatischen Liga abgeschafft worden. Letztere räumte jetzt die Ländereien, um eine gut vernetzte Vermögensanlage aufzubauen. Es sollte ein ganz neuartiges Gebiet entstehen, das nicht durch Krieg und Nation definiert war, sondern durch Handel, Wohlstand und erzwungenen Frieden.
„Währenddessen machen die Teutonen weiter, auf eigene Faust, und kümmern sich nicht darum, dass sie die guten Menschen verjagen“, unterbrach ihn der Doktor. „Und wenn sie sie nicht verjagen können, bringen sie sie um. Gute Menschen sind am einfachsten zu töten. Wir haben die Folgen davon gesehen, als wir uns trafen, mein Kind“, fügte er hinzu, an jene Kreatur gewandt.
„Die Deutschen in dieser Gegend haben die Kahns, Cäsar und sogar den litauischen Einmarsch überlebt“, warf der Schütze ein, während er an seinem Lederbeutel saugte. „Sie respektieren Gesetze mehr als Menschen. Sie haben weder keltische Priester noch großes Interesse an menschlichen Opfern. Es sind vernünftige und ruhige Leute. Sie sind fleißig und ihre ganze Hingabe gilt ausschließlich dem Geheimnis davon, wie man Bier ohne Pilzbefall brauen kann, sowie dem Pelzhandel und der Wildschweinjagd. Sie jagen in den großen Wäldern, bewirtschaften liebliche Täler und schmausen in ihren festlichen Hallen im Tiefland. Sie huldigen die Sonne, das Feuer und den Mond. Aber Jesus und seine Mutter kann man ihnen auch heute noch schwer verkaufen. Deswegen das Schwert.“
„Hat Merkur irgendeine Bedeutung für sie?“
„Merkur? Die alten Deutschen verehrten Merkur ganz besonders. Es gibt viele Bilder von ihm, eingraviert an geheimen Orten. Diese guten Leute sehen Merkur als Initiator aller Künste, die ihnen Wohlstand bringen. Darunter fallen vor allem die Kunst des Reisens und das Profitschlagen aus dem reibungslosen Handel zwischen den Reisenden.“ „Mir gefällt dieses Gerede über Merkur nicht“, brummte der Doktor. „Er bringt plötzlichen Wandel. Ich bin Naturphilosoph, Engländer, Reisender und Sternenleser. Und die Sterne sagen mir, dass die Welt auf ihr Ende zugeht.“
„Ich sah das Ende von Welten zuvor, Magier, und ich sah solche wie dich.“
„Tatsächlich, Schütze?“, zischte der Dämon. „Und hast du auch schon solche wie unseren kleinen Peter gesehen?“
Llw antwortete nicht. Die beiden Männer sahen sich einen Moment lang an. Bald hatte die Stille sie ergriffen und sie liefen in die weiten Geräusche der Nacht hinein.
Irgendwann machten sie Pause unter einem riesigen Baum der Reisenden. Der Schütze ließ Funken von seinem Elektrum-Stein in das weiche, trockene Laub springen und entfachte mit Hilfe einer konischen Apparatur ein Feuer.
Als sie dies beobachtete, überfiel eine plötzliche Angst ihren Körper. Eine Fährte. Jene Kreatur berührte ihren weißen Arm.
Das Feuer schrumpfte. Mit betörender Perfektion zeichnete sich sein Flackern blau und gelb ab. Neben dem Feuer saß ein fettes Geschöpf mit Umhang und ein Junge. Der Junge trug einen hellblauen Hut. Jene Kreatur hörte das Geräusch von fließendem Wasser bemerkte, dass sie gegen einen Baum pinkelte, während sie die anderen beobachtete. Funken schossen in ihre Lenden und krochen ihre Wirbelsäule hoch. Sie witterte den Geruch von verkrusteten Kristallen in der Luft. Da öffnete sie ihren langen Kiefer und lachte.
Lawful hörte das Geräusch und drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich. Sie ließ ihren Arm gehen. Sofort war alles wie vorher. Es brannte ein Feuer, das jetzt wieder rot und orange war und weniger präzise in seiner Schönheit. Aber sie war näher dran. Sie war der Junge mit dem Hut. Der Hut war rot. Und als sie sich wieder zu Lawful umdrehte, sah sie, dass er sich hingekniet hatte, bereit, einen Pfeil auf seinen großen Bogen zu spannen. Er schaute die Straße hinunter in die Dunkelheit. Erneut nahm sie einen Geruch in der Luft wahr und ihr Herz begann zu rasen, denn dieser Geruch war es, vor dem ihr Körper Angst hatte.
„Mach jetzt keine ruckartigen Bewegungen“, sagte Llw ruhig und mit gelassener Stimme.
Aus der Ferne ertönte ein Geheul, das klagend wie ein einsames Lied durch die weiten Tiefen der Nacht zu ihnen drang.
Sie sah wie sich das Land außerhalb des Laubdachs, unter dem sie saß, zu grauen Hügeln wölbte, als sich das Bild plötzlich veränderte und eine Gestalt aus dem tieferen Schwarz des Waldes kam. Fellverdichtung im Lendenbereich, die lange Nase grinsend über dem schwarzen Boden: Ein Wolf.
Er trottete langsam aus den Schatten heraus, bevor er schließlich stehen blieb. Seine tiefliegenden Augen waren dicht über dem Boden. Sein Kopf hing mit scheinbarer Nonchalance zwischen seinen Pfoten, aber sein Blick zielte direkt in die Augen jener Kreatur. Es spiegelten sich Anerkennung, Neugier und Verstand zwischen ihnen.
Der Schütze lehnte sich leise und geschmeidig zurück, um einen Pfeil aus seinem Köcher zu ziehen.
„Es ist ein Rudel in der Nähe“, flüsterte Scariot. „Töte diesen Streuner, Lew Archer. Die anderen werden das als Zeichen verstehen und uns in Ruhe lassen.“
Aber der kleine Lord erhob die Hand. „Er wird ihr nichts antun.“
„Willst du sie verzaubern?“ grinste der Magier und schlang seinen Umhang um seine übergewichtige Taille. Der Waliser spannte den Bogen.
„Runter damit, Schurke“, sagte sie. „Dein Lord befielt es.“
Die Wölfin wusste, dass LLw auf sie zielte. Ihr Schwanz, den sie bis dahin auf dem Boden hinter sich her geschleift hatte, war jetzt aufgerichtet und ihre Ohren waren nach hinten angelegt. Sie ragten aus ihrem Schädel, gespannt wie der Bogen des Schützen. Aber der Humor hatte ihre Augen nicht verlassen.
„Ich sage es noch einmal: runter damit.“
LLw ließ seine Waffe sinken.
Die Wölfin lachte entzückt. Sie kam jetzt auf jene Kreatur zu, um an ihrer kleinen Hand zu riechen und sie mit ihrer trockenen Zunge abzulecken.
„Sie ist also tatsächlich eine Hexe“, flüsterte Scariot.
„Und genauso hast du diesen perversen Doktor verzaubert, deinen Knecht, du kleine Kreatur.“ „Wir müssen ihn töten“, sagte der Schütze, wie aus einer tiefen Verschwörung heraus. Darauf antwortete jene Kreatur:
„Es gibt ein Gesetz der Reisenden. Und sie ist eine Reisende.“

 

Theresa Patzschke ist Autorin und Musikerin und lebt in Berlin.

Georg Döcker: Digitale Logen, leere Stühle, und chaotische Räume. Corona und Theater

Prolog zum Schreiben über Corona

Einigen in Theorie und Philosophie scheint es gelegen zu kommen, dass sich die Corona-Pandemie wie selbstverständlich im Begriff der Krise präsentiert. Sich mitunter dem „Rausch des Epochalen“[1] (Joseph Vogl) hingebend, bekräftigen Slavoj Žižek[2] oder Naomi Klein[3], aber auch manche Kommentatorin aus dem Theater[4] den vollen Bedeutungsumfang der Krise als Moment der Unterscheidung und Entscheidung, als Alternative von Leben und Tod, die sich der Bevölkerung und dem Staat in bio- und nekropolitischer Hinsicht stellt, und damit auch der Existenz ihrer dominanten Organisationsformen. „Bifo“ Berardi erhebt Corona dementsprechend zur schicksalshaften Wegscheide zwischen „either a techno-totalitarian system that will relaunch the capitalist economy by means of violence, or the liberation of human activity from capitalist abstraction.“[5] Die Affirmation der Krise als zeitdiagnostischem und philosophiegeschichtlichem Motiv entspricht aus der Theaterperspektive dem Tragischen, wie es sich besonders im berühmtesten modernen Beitrag zu Seuche und Theater widerspiegelt, Artauds „Le théâtre et la peste“ (1933/34): „Le théâtre comme la peste est une crise qui se dénoue par la mort ou par la guérison.“[6] Die tragische Pointe besteht allerdings darin, dass Tod und Leben letztlich unentscheidbar sind, und nur die Tat gezeigt haben wird, welches von beidem sich realisiert.

Die Frage, die sich angesichts der kritisch-tragischen Interpretation der Corona-Pandemie für die Theorie stellt, ist zuallererst die nach dem Narrativ, dem Zeithorizont und der Geschichtlichkeit, der sie die gegenwärtigen Entwicklungen unterstellen will. Dass andere Begriffe als der der Krise zur Wahl stehen, belegt Bojana Kunst, der zufolge sich die aktuelle Lage im Zeichen der Sorge darstellt, als Ringen um ein „caring with“ gegen die neu verordnete „accurate, right care“, messbar in den politisch verordneten zwei Metern Abstand [7]. Das Paradigma der Sorge ist dem der Krise diametral entgegengesetzt, wie sich mit englischen Begriffen verdeutlichen lässt: es geht um „care“ statt „cure“, um Sorge als Kontinuität versus Heilung oder Tod als Ereignis, politisch gesprochen um Prozess und Praktik versus Revolution.
Doch weder die Figur der Krise noch die der Sorge macht begreiflich, dass die Corona-Pandemie trotz aller politischen wie analytischen Ordnungsbestrebungen zunächst ein noch nicht in Optionen und Gegensätze aufgeteilter Zustand der Unordnung ist, den als solchen zu fassen vielleicht die dringlichste Aufgabe der Interpretation ist. Nicht zuletzt deshalb, weil etwa die Administration von Donald Trump das soziale Chaos zum politischen Instrument erhebt, wie Kolumnen nahelegen, die ihm das Aufhetzen seiner AnhängerInnen zum Bürgerkrieg vorwerfen.[8] Die Theorie in Corona-Zeiten kann sich vielleicht dadurch auszeichnen, den chaotischen Zwischenräumen inmitten von Begriffen und Strategien nachzugehen – in all deren Ambivalenz.

Das kontrolllogische Theater der digitalen Loge

Das Theater ist unter dem Einfluss des Coronavirus vor allem mit der Ordnung oder Unordnung seiner Körper und seines Raums konfrontiert, ist doch die von der Politik verfügte Schließung von Theaterhäusern dem Umstand geschuldet, dass sie als Orte der Versammlung und Ansammlung von Körpern die unkontrollierbare Ansteckung der Massen zu befördern drohten. Die „körperliche Begegnung, die Kopräsenz von Künstler*innen und Zuschauer*innen in einem Raum“, und damit „die Grundeinheit“ der performativen Künste, schreiben die Dramaturgen Maximilian Haas und Joshua Wicke, „ist plötzlich zum Risikofaktor geworden.“[9]
Neben den drastischen ökonomischen Auswirkungen der erzwungenen Theaterpause[10] handeln die Theaterdiskurse deshalb vor allem von räumlichen Ausweichstrategien, besonders von der Möglichkeit, den Bühnenraum ins Digitale zu verlagern. Bemerkenswert ist dabei weniger der Abwehrreflex gegen das Streaming von Aufführungsmitschnitten, der mit dem Argument vom Verlust der angeblichen Unmittelbarkeit des Aufführungsereignisses untermauert wird, sondern die Wiederkehr von Interaktion und Partizipation in Form der euphorisch vorgetragenen Idee, das Theater neu zu erfinden auf der Basis der digitalen Zwei-Weg-Kommunikation mit den ZuschauerInnen, die dadurch zu hinter den Bildschirmen Handelnden in einem semiotechnischen Erfahrungsraum würden.[11]
Unerwähnt bleiben die sozio-politischen wie machttechnologischen Implikationen dieser Verschiebung zur digital-interaktiven Theaterloge. Das beginnt mit der ironische Pointe zum Zeitgeschehen, dass sich das Theater genau jenen Kommunikationsarchitekturen zuwenden soll, die in Staaten wie Südkorea aktuell zum Einsatz kommen, um der Verbreitung des Virus, anders als in Europa, nicht disziplinär mit Ausgangssperren, sondern kontrolllogisch mit zielgenauer Überwachung und Lenkung zu begegnen, wie Philipp Sarasin und Paul B. Preciado betont haben[12]. Das dortige Vorgehen, einzelnen BürgerInnen auf deren Smartphones anzuzeigen, dass sie infizierten Personen ausweichen sollen, beruht auf ständigen Inputs durch Standort-Lokalisierung, gepaart mit Daten aus den Massentests zur Infektions-Diagnostik, die zusammen ein zentral observiertes, aber in sich distribuiert verfasstes Netzwerk ergeben, das in Mobilität und Schnelligkeit seiner Informationsverteilung der Ausbreitung des Virus durch dessen eigenes biologisches distribuiertes Netzwerk gewachsen sein soll. Die gleichen Kontroll-Strukturen würden ein digitales Interaktionstheater auszeichnen, bloß, dass sie in diesem Fall nicht angewendet würden, um die Bewegung der Körper aufrecht zu erhalten, sondern vielmehr um sie obsolet zu machen, weil das Theater fortan nach Hause kommt. Im Übrigen sind Ansätze zu einem kontrolllogischen Theater nicht neu, hat doch schon 1964 der Kybernetiker Gordon Pask in seinen „Proposals for a cybernetic theatre“ die Vision einer interaktiven Theaterarchitektur entworfen, die eine allumfassende Kontrollmatrix des Verhaltens von Publikum und Akteuren bedeutet.[13]

Die Vorstellung des chaotischen Raums

Die so umrissene Anordnung des digitalen Heimtheaters passt sich ein in die allem Anschein nach entstehende Landschaft von mindestens drei sozio-politisch besetzten Räumen und Körpern, die sich aus Preciados Analyse ergeben und je eigene Trennungen wie Durchlässigkeiten bezeichnen.[14] Der Raum des Theaterusers ist identisch mit dem Zuhause, dem Domizil, das man nicht mehr körperlich, sondern nur noch als Zeichen verlässt, als akusmatische Stimme und verrechnete Variante des eigenen Gesichts. Zum selbst gewählten physisch-mechanischen Gefängnis umfunktioniert, ist das Heim zugleich die Kommandostelle des semiotischen Hinausreichens in den digitalen Raum, wobei freilich auch im bloß semiotischen Austausch die Gefahr der Ansteckung lauert, allerdings nicht durch biologische Erreger, sondern durch Computerviren.
Ist dieses Subjekt, das auch als Prototyp des von Sergio Benvenuto prophezeiten „homeized life“[15] wie als Avatar der laut Peter Weibel endlich voll und ganz einbrechenden „Ferngesellschaft“ gelten kann[16], kaum noch Körper, so ist umgekehrt der Körper, der sich im Freien wiederfindet, kaum noch Subjekt. Im offenen Milieu der Straßen und öffentlichen Plätze ist der andere wie man selbst zuallererst der potentielle Krankheitsträger, ist die eigene Existenz vor allem das körperliche Ausgesetztsein, dem man mit Masken und anderen Utensilien nur behelfsmäßig beikommt. In den teils unvermeidbaren Begegnungen wird besonders Gerko Egerts Diagnose eines „Aero-Körpers“ schlagend, eines „Luftbewegungskörpers“[17], der nicht mit der physischen Grenze unserer Glieder, auch nicht mit der Kinesphäre des Körpers identisch ist, sondern, wie man sagen könnte, einen eigenen politisch-wissenschaftlich-virologischen Umriss bildet, der mit den 2 Metern Abstand, die man zu halten angewiesen ist, nur abstrakt erfahrbar bleibt. Wer sich unter Körpern bewegt, der bewegt sich mit und unter diesen Virosphären, denen es möglichst auszuweichen gilt.
In dieser Zuspitzung von geschlossenem versus offenem Raum und den damit verbundenen Sicherheiten oder Unsicherheiten liegt zweifellos eine politische Sprengkraft, die Bruno Latour auf den Punkt gebracht hat, indem er von „bastions fortifiés de privilèges“ schrieb, die unzugänglich bleiben sollten „à tous ceux qu’il va bien falloir laisser en plan“ – ein politischer Antagonismus, den Latour in seinem Argument von Corona als Testlauf für die Klimarevolution gleichermaßen für die gegenwärtige wie die nächste Schlacht geltend macht.[18]

Für das Theater stellt sich im Rahmen dieser Frontstellung nicht nur die Frage, ob und wie es aus dem neu behaupteten digital-interaktiven Bühnenraum heraus operieren will, sondern vor allem, was mit den Häusern, was mit den derzeit leeren Auditorien und Bühnen, was mit dem Theater als historischem Milieu der Einschließung geschieht, sobald an seine Öffnung unter bestimmten Voraussetzungen wieder zu denken ist. Muss man nicht neben dem Krankenhaus auch das Theater mitdenken in Preciados folgenden Worten, die den dritten Raum neben Heim und Straße anzeigen: „Die Institutionen der Einschließung, und dazu zählen auch die Krankenhäuser, sind von nun an, so scheint es, nicht länger Enklaven, die der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und der Disziplin dienen, sondern die schwächsten Glieder einer in Mutation befindlichen biopolitischen Kette.“[19]
Angenommen, die Theater werden, wie derzeit kontrovers in Österreich diskutiert, unter jenen Auflagen des Abstandhaltens geöffnet, die sich derzeit auf den politischen Bühnen der Parlamente, etwa dem britischen House of Commons dadurch manifestieren, das nur jeder dritte oder vierte Platz besetzt ist, was der politisch-virologischen Grenze des Aero-Körpers Genüge tun soll: das Auffälligste in diesem Theater wäre das Auditorium selbst, die gespenstische Leere zwischen den Körpern, deren Inszenierung womöglich zweierlei leisten kann. Zum einen wäre die Vorstellung eines solchen spärlich besetzten Theaters die Vorstellung eines nicht Zur-Deckung-Kommens zweier Raumordnungen mit unterschiedlichen Imperativen. Ein banaler, aber nicht unbedeutender Teil der in den historischen Theaterarchitekturen, von der Perspektive bis zur Black Box, materialisierten Raummaximen war: viele Zuschauer auf wenig Raum – während unter Corona-Bedingungen das Gegenteil gilt: wenige Körper auf viel Raum. Über bloß quantitative Unterschiede hinweg deutet sich das Ende der Gedrängtheit, des Nebeneinanders, der Reihe an, was in der Vorstellung verstreuter Körper zwischen leeren Zuschauerplätzen allzu ostentativ deutlich wird, und womöglich Anlass zu neuen Formationen wie dem Raster oder Gitter gibt, wie man sie bereits bei manchem öffentlichen Protest sieht.
Aber grundlegender kann das mangelnde Einrasten der neuen Raumorder im Theater vielleicht noch etwas anderes leisten: es kann vielleicht die Fiktion einer jeden Raum-Anordnung, und warum nicht: jeder sozio-politischen Ordnung ausspielen, kann in Akten der radikalen Imagination das letztlich immerzu unregierbare Chaos der Körper anzeigen, das sich noch hinter jeder Abstraktion wie den verhängten zwei Metern Abstand verbirgt. Die ungemein heikle Frage, die sich daraus ableiten würde, ist diejenige, wie das Theater die chaotischen Elemente, die sich nicht nur in der einfachen Leere der Zuschauersitze, nicht nur im Raum, sondern überall auftun, mit seinen Mitteln der Vorstellung auf eine Art erfahrbar machen kann, die weder der chaotischen Gefahr des Virus noch der politischen Indienstnahme des Chaos entspricht. Es geht also vielleicht um die so heikle Frage, wie das Theater, wie die Kunst auch in schwierigen Zeiten wie diesen das Chaotische und Anarchische als Träger von Potentialität reklamieren können, inwiefern die vielen damit verbundenen Aspekte von Wollust, Begehren oder Differenz auch und gerade jetzt von Theater und Kunst behandelt werden können, oder inwiefern sie gar keine andere Wahl haben, als sich daran zu versuchen, solange sie die Arbeit nicht ausschließlich anderen überlassen wollen.

 

1 Joseph Vogl, „’Dem Rausch des Epochalen misstrauen‘,“ Interview von Elke Buhr, Monopol (9.4.2020): https://www.monopol-magazin.de/joseph-vogl-coronakrise, zuletzt abgerufen am 11.4.2020.

2 Slavoj Žižek, „’What I like about coronavirus.‘,“ Spectator USA (14.3.2020): https://spectator.us/like-about-coronavirus-slavoj-zizek/, zuletzt abgerufen am 18.3.2020;

3 Naomi Klein, „Coronavirus Capitalism – and How to Beat it,“ The Intercept (16.3.2020): https://theintercept.com/2020/03/16/coronavirus-capitalism/, zuletzt abgerufen am 21.3.2020.

4 Laura Staal, „The Crisis Stage,“ Etcetera (14.4.2020): https://e-tcetera.be/the-crisis-stage/, zuletzt abgerufen am 15.4.2020.

5 Franco „Bifo“ Berardi, „Beyond the Breakdown: Three Meditations on a Possible Aftermath,“ e-flux (31.3.2020): https://conversations.e-flux.com/t/beyond-the-breakdown-three-meditations-on-a-possible-aftermath-by-franco-bifo-berardi/9727, zuletzt abgerufen am 10. April 2020.

6 Antonin Artaud, „Le théâtre et la peste,“ in Œuvres, herausgegeben von Évelyne Grossman, 510-521. Paris: Éditions Gallimard, 2004. 521.

7 Bojana Kunst, „Beyond the time of the right care. A letter to the performance artist,“ Schauspielhaus Zürich (21.4.2020): https://neu.schauspielhaus.ch/de/journal/18226/beyond-the-time-of-the-right-care-a-letter-to-the-performance-artist, zuletzt abgerufen am 22.4.2020.

8 Hannah Selinger, „Trump is looking for a civil war. His followers are only too happy to oblige,“ Independent (20.4.2020): https://www.independent.co.uk/voices/trump-coronavirus-lockdown-protest-liberate-michigan-virginia-minnesota-second-amendment-a9475026.html, zuletzt abgerufen am 20.4.2020.

9 Maximilian Haas und Joshua Wicke, „Theater in Quarantäne,“ Schauspielhaus Zürich (20.4.2020): https://neu.schauspielhaus.ch/de/journal/18219/theater-in-quarantne, zuletzt abgerufen am 22.4.2020.

10 Tobi Müller, „Dann muss der alte Hamlet wieder ran,“ Die Zeit (8.4.2020): https://www.zeit.de/kultur/2020-04/theater-corona-krise-finanzierung-neuproduktionen-schaubuehne-berlin-residenztheater-muenchen, zuletzt abgerufen am 20.4.2020.

11 Christian Rakow, „Das Theater und sein digitales Double,“ Nachtkritik.de (12.4.2020): https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17950:nachtkritikstream-wie-das-streamen-von-abgefilmtem-theater-der-buehnenwelt-neue-kulturelle-bedeutung-verschaffen-kann&catid=1768&Itemid=60, zuletzt abgerufen am 12.4.2020; Katja Grawinkel-Claassen, „Der Corona-Reflex. Liveness im digitalen Raum – Über den Internet-Rush der Theater in Zeiten von Corona und Social Distancing,“ Nachtkritik.de (30.3.2020): https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17857:liveness-im-digitalen-raum&catid=101&Itemid=84, zuletzt abgerufen am 14.4.2020; Uwe Mattheiss, „Hört auf zu streamen! Was der Kultur im Netz verloren geht,“ taz (11.4.2020): https://taz.de/Was-der-Kultur-im-Netz-verloren-geht/!5677513/, zuletzt abgerufen am 15.4.2020.

12 Philipp Sarasin, „Mit Foucault die Pandemie verstehen?,“ Geschichte der Gegenwart (25.3.2020): https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/, zuletzt abgerufen am 28.3.2020; Paul B. Preciado, „Vom Virus lernen,“ HAU3000 (4.2020): https://www.hebbel-am-ufer.de/hau3000/vom-virus-lernen/?fbclid=IwAR3CfnvTfnTp0YCV5Z7yxSnLwo2ZX50Zu_aeIoZC7NSQBEzlMrUzyeQpSec, zuletzt abgerufen am 10.4.2020.

13 Georg Döcker, „’Control Performance.‘ Theater und Kybernetik anhand von Gordon Pasks Proposals for a Cybernetic Theatre,“ in Theater und Technik, herausgegeben von Maren Butte, Kathrin Dreckmann et al., erscheint im Herbst 2020; zu algorithmischer Kontrolle im Theater auch; Ulf Otto, „Theatres of Control. The Performance of Algorithms and the Question of Governance,“ The Drama Review 244 (Winter 2019): 121–138.

14 Preciado, „Vom Virus lernen“, s.o.

15 Sergio Benvenuto, „Welcome to Seclusion,“ Zit.n. European Journal of Psychoanalysis. „Coronavirus and philosophers. M. Foucault, G. Agamben, J.L. Nancy, R. Esposito, S. Benvenuto, D. Dwivedi, S. Mohan,“ European Journal of Psychoanalysis (3.2020): http://www.journal-psychoanalysis.eu/coronavirus-and-philosophers/, zuletzt abgerufen am 18.3.2020.
16 Peter Weibel, „Peter Weibel über die Auswirkungen der Coronakrise auf die Kultur,“ ZKM Karlsruhe Youtube-Kanal (23.3.2020): https://www.youtube.com/watch?v=7me9I23oSlg, zuletzt abgerufen am 10.4.2020.

17 Gerko Egert, „Das choreographische Regime Covid-19,“ Triakontameron (April 2020): http://triakontameron.de/die-zweiten-zehn-tage/#tag-20, zuletzt abgerufen am 16.4.2020.

18 Bruno Latour. „Imaginer les gestes-barrières contre le retour à la production d’avant-crise.“ AOC (30.3.2020): https://aoc.media/opinion/2020/03/29/imaginer-les-gestes-barrieres-contre-le-retour-a-la-production-davant-crise/?loggedin=true, zuletzt abgerufen am 18.4.2020.

19 Preciado, „Vom Virus lernen“, s.o.

 

Georg Döcker //  ist PhD-Student am Department of Drama, Theatre and Performance der University of Roehampton, London, sowie Stipendiat der University of Roehampton und des Techne Consortium. 2015-2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Projekts „Theater als Dispositiv“ am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Uni Gießen.

Karolin Meunier: Ceasing the Voice-Over

Auf der Suche nach einer Sprache, die Bilder für Erfahrungen anbietet und darin eine Form für Nähe vorschlägt und nach Texten, in denen ein Verhältnis dieser Sprache zum Körper anklingt, das kein unmögliches ist und sich deshalb übertragen lässt. Zum Beispiel Leben ist Leben, eine Videoarbeit von Christine Lemke und The Undying. A Meditation on Modern Illness, ein Buch von Anne Boyer.

„Eine Kaserne / Haftanstalt Gefängnis Zuchthaus / Fürsorgeheim / Eine Schule für Schwererziehbare oder eine Asylantenunterkunft / Eine Psychiatrische Einrichtung / Ein Krankenhaus / Oder / Ein Siechenhaus / Ein Kinderhospiz / Eine Sterbeklinik / Ein Alten- oder Feierabendheim / Eine Demenz Wohngemeinschaft / Ein Haus der Generationen / Ein Pflegehotel / Eine Residenz. / Eine Seniorenresidenz / Eine gutsituierte Seniorenresidenz / Die teuerste Seniorenresidenz am Platz.“

Während das erste der insgesamt 19 schwarz-weißen Standbilder eingeblendet wird, liest ein Sprecher den Text aus dem Off. Mit jedem der von ihm aufgezählten Orte entfernt sich der gesprochene Text weiter von dem, was man auf dem Bild zu sehen meint: Dieses alte, mit Mauern und Stacheldraht gesicherte Gebäude kann kein Kinderhospiz und kein Haus der Generationen sein. Die Filmstills sind dem Hollywood-Klassiker Einer flog über das Kuckucksnest (1975) entnommen und der triste Gebäudekomplex ist der Schauplatz der Ereignisse in einer fiktiven psychiatrischen Einrichtung in den USA, der Darstellung restriktiver Behandlungsmethoden und der Ausbruchsfantasien der portraitierten Patient*innen. Über die stillgestellten Ansichten von Personen in Zimmern, Korridoren und Behandlungsräumen legt sich die Bildbeschreibung wie eine ausgedehnte Animation der Charaktere. So wie Bild und Ton einander kommentieren und dabei langsam auseinanderdriften, legen sich auch unsere Vorstellungen von den schlechten und den vermeintlich besseren Orten der Pflege und Fürsorge auf beklemmende Weise übereinander. Denn im Verlauf der Lesung wird außerdem die Szenerie einer anderen Einrichtung nachgezeichnet, ein Seniorenheim. Auch hier Menschen, die sich, mehr oder weniger freiwillig, gemeinsam mit anderen an einem Ort wiederfinden, den sie nicht mitgestaltet haben. Die Möglichkeit, aktiv darin vorzukommen, ist für alle reduziert. „In Räumlichkeiten und Tagesabläufen / werden ihre Lebensreste geordnet / auf die Zimmer verteilt / in einen Zusammenhang gebracht. / Von morgens in der Frühe bis spät in die Nacht.“ Lemke spielt damit auf einen weiteren Film an: Die Spätzünder lief 2010 im deutschen Fernsehen und lässt, wie eine Art zeitgenössisches Remake, die Geschichte des Aufstandes nicht in der Psychiatrie, sondern als Komödie in einem Altersheim der Gegenwart spielen. Die Protagonist*innen treten in einer Castingshow auf und bestehen darauf, mit ihren Erfahrungen Teil der Gegenwart zu sein und im Leben anderer vorzukommen. „Die Insassen Häftlinge Bewohner Pflegefälle und Senioren treten auf / Auf die Bühne / Vor die Kamera / Im Fernsehen / Sie machen mit / sie sind dabei / Sie sagen: ‚Wir haben lebenslänglich.’ / Und sie sagen: ‚Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben.’“
Wie lässt sich als Patientin, als Insasse, als Bewohnerin dieser Institutionen das unvermeidliche Gefühl eingeschlossen und ausgeliefert zu sein, überhaupt aneignen und vermitteln? Wie dem sprachlich eine Form zurückgeben, was täglich von Hausordnungen, Packungsbeilagen, Müdigkeit, Wartezeit und Diagnosen überlagert wird? Die Beschreibung von Details, die Niederschrift des Blicks vom Krankenhausbett über den eigenen Körper hinaus bis zu Zimmernachbarinnen und Untersuchungsräumen, wie Christine Lemke es in einem weiteren ihrer Texte skizziert, ist wie eine erste Inszenierung des Erlebten. Eine Sezierung und zugleich Poetisierung der verschachtelten Ordnungen, in denen man sich als Nicht-Mehr-Gesunde wiederfindet und in die man je nach Einrichtung einzusteigen hat oder die man im Gegenteil hinter sich lassen soll.

Die Schriftstellerin Anne Boyer schreibt in The Undying, ihrem 2019 erschienenen Buch über die Erfahrung einer langjährigen Brustkrebsbehandlung, von Systemen, die wir mit uns herumtragen, die aber nicht immer gleich sichtbar gemacht oder miteinander in Verbindung gebracht werden: „The system of medicine is for the sick, a visible scene of action, but beyond it and behind it and beneath it are all the other systems, family race work culture gender money education.“ Als Patientin bleibt oft nur das mühsame Navigieren dazwischen und die zusätzliche Arbeit, die verschiedenen Strukturen als zusammenhängend zu kennzeichnen. „A patient is a system-containing object within a series of interlocking systems full of other system-containing objects. As an object, a patient can function (comply) or break (cease compliance). ‚To cease compliance’ can mean ‚to display any potential of agency’“, schreibt Boyer und diese Unterbrechungen in der Kommunikation bestimmter medizinischer Abläufe und Maßnahmen sind vielleicht ebenso lebensnotwendig wie die Maßnahmen selbst, die nicht unterbrochen werden können.

Boyer realisierte kurz nach der Diagnose, dass sie noch nicht viel wusste über Krebs, aber immer schon über das Erzählen von Geschichten. Sie tastet ihre Umgebung, und was darin mit ihr passiert, als Autorin minutiös ab. Und gerade durch die Versprachlichung dieses eigenen Blicks, der von innen nach außen projiziert und das Außen auch innen reflektiert, werden diese sich wiederholenden Strukturen zu einer mit anderen geteilten Realität: „What is your name and birth date? A cancer’s patient name, stated by herself, is adjunct to the bar code of her wristband […]. Though my bracelet had been scanned for my identity, requiring me to repeat my name is medical information’s backup plan: it is the punctum of every transmission of something to or from my body. I might sometimes remember who I am.“ Die Beschreibung dieser Realitäten, die von mehr Variablen als Gesundheit und der Ordnung von Krankheit ausgehen, verstehe ich ebenso als Geste der Unterbrechung. In diesem Sinne ist das Schreiben aus der Perspektive der „Insassen Häftlinge Bewohner Pflegefälle und Senioren“ auch eine Forderung, und das nicht nur für eine Ausnahmesituation. 

Christine Lemke: Leben ist Leben – nach Motiven von “Einer flog über das Kuckucksnest” und “Die Spätzünder” (2013)

Referenzen:
Christine Lemke, Leben ist Leben, Digitales Video, 16:44, Sprecher: Peter Molzen, 2013.

The Wonderful Invalid (Arbeitstitel), ein weiterer Text der Autorin, wurde 2017 als Lesung mit Bildstrecke im Kino Arsenal in Berlin aufgeführt.

Anne Boyer, The Undying. A Meditation on Modern Illness, London 2019. Anne Boyer hat in den vergangenen Wochen zwei Einträge zu Corona auf ihrem Blog Mirabilary veröffentlicht.



Karolin Meunier
// ist Künstlerin und Autorin in Berlin. Sie unterrichtet an der Akademie der Bildenden Künste München. Ihre Performances, Texte und Videoinstallationen verhandeln den sprachlichen Zugriff auf Erfahrung durch kulturelle Praktiken wie etwa in Übersetzungsprozessen, Gesprächen oder Lerntechniken.